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HaikuHaiku

Beginnt man ein Haiku zu lesen, ist es schon vorbei - und hallt doch lange nach. Beginnt man eins zu schreiben, hört man nie wieder auf, denn die Welt ist plötzlich eine andere.

Haiku ist eine traditionelle japanische Lyrikform. Aber typisch für Japan, wo Moderne und Tradition auf engstem Raum zusammenleben: Seine Kürze und Einfachheit machen es für die SMS-Generation kompatibel.

Das japanische Haiku hat keinen Titel, keinen Reim, es besteht aus drei Wortgruppen zu fünf, sieben und fünf Lautsilben. Sein Inhalt ist eine Momentaufnahme aus der Natur, wobei die Andeutung der Jahreszeit für die Grundstimmung sorgt.

 

Wie alles begann

Die Geburtsstunde des Haiku in Japan datiert in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit gewann eine in Adelskreisen verbreitete Form des Kettengedichts immer mehr Popularität in der bürgerlichen Gesellschaftsschicht: Haikai Renga.

Ein Haikai Renga wurde auf Einladung eines Gastgebers an einem Abend von mehreren Dichtern im Wechsel verfasst. Besondere Regeln galten für den ersten Vers - Hokku genannt -, den ein Renga-Meister beisteuerte. Das Hokku musste einen Bezug zum Zeitpunkt und dem Gastgeber des Treffens haben. Gelöst wurde diese Aufgabe dadurch, dass der Vers einen Jahreszeitbezug hatte und den Gastgeber durch ein Bild aus der Natur ehrte. Dieser erste Vers bestand aus siebzehn Lautsilben in dem ureigenen japanischen Rhythmus fünf-sieben-fünf.

Einer der größten Haikai Renga-Meister war Matsuo Basho (1644 - 1694). Schon zu Bashos Zeiten begann sich der erste Vers zu verselbständigen. Es gab Hokku-Wettbewerbe und -Sammlungen, aber erst seine Verse verhalfen dem Kleinstlebewesen unter den Lyrikformen zur Loslösung vom Kettengedicht. Unter anderem schrieb Basho das meistzitierte Haiku der Literaturgeschichte:

Der alte Teich
Ein Frosch springt hinein
Vom Wasser ein Geräusch

In die Welt hinaus

Die Bezeichnung Haiku ist ein Kunstwort, das erst Masaoka Shiki (1867 - 1902) für das eigenständige Hokku einführte. Shiki war es auch, der dem Haiku so viel neuen Schwung gab, dass es sich im 20. Jahrhundert in der ganzen Welt verbreitete. Er legte besonderen Wert darauf, im Haiku Ereignisse und Bilder aus der Natur möglichst objektiv zu skizzieren. Gefragt waren Echtheit und Unmittelbarkeit des sinnlich wahrgenommenen Augenblicks.

Ein Haiku bleibt nach diesem Verständnis immer ein unvollendetes Gedicht. Erst der Leser vollendet den Text, indem er den Augenblick nachvollzieht und seine eigenen Ideen und Gefühle dazu entfaltet. Interessanterweise weist die Forderung des Nach- oder Mitfühlens Ähnlichkeit mit dem EpigrammeEpigramm als europäischem Kurzgedicht auf, wie es von Herder in Anlehnung an die griechische Urform propagiert wurde.

Mit den von Shiki entwickelten Vorgaben fasste das Haiku in der westlichen Welt zuerst in Nordamerika Fuß, als die kalifornische Literaturszene rund um San Francisco in den 50ern die Übersetzungen japanischer Klassiker von R. H. Blyth entdeckte. Ein weiterer Schritt zur Popularisierung war ein 1964 veranstalteter Haiku-Wettbewerb der Japan Air Lines, bei dem über 41.000 Haiku eingereicht wurden.

Heutzutage entstehen Haiku an allen Ecken der Welt, ob in Australien oder auf dem Balkan, ob in Russland oder in Brasilien - Haiku ist überall zu Hause. Und Deutschland? Das Haiku in Deutschland verharrte lange im Dornröschenschlaf. Die ersten großen Sammlungen übersetzter japanischer Haiku konnten nicht überzeugen - zu schematisch und zum Teil süßlich waren die deutschen Übertragungen. Die 1988 gegründete Deutsche Haiku-Gesellschaft brachte ebenfalls nicht den großen Sprung. Erst im Internet küsste Bashos Frosch das deutsche Haiku-Dornröschen wach.

Noch Ende der 90er konnte man die deutschen Haiku-Websites an den Fingern einer Hand abzählen, aber seitdem hat ihre Zahl Hand und Fuß bekommen. Kaum wachgeküsst, entwickelt das Haiku in Deutschland eine erstaunliche Dynamik. Das ist zu einem Gutteil der Faszination zu verdanken, jeden Augenblick seines Lebens bewusst wahrzunehmen: Es könnte ja ein Haiku sein. Setzt sich dieser Trend durch, müssen wir uns vom Bild des einsamen und “entrückten” Poeten verabschieden, denn durch Haiku wird jeder mitten im Leben stehende Mensch zum Dichter und Dichter werden wieder mitten im Leben stehende Menschen.

Haiku-Auswahl

Stille -
den Fels durchdringt
das Zirpen der Zikade

(Matsuo Basho, 1644-1694)

Das Schlachtross
kommt allein zurück
Vom Baum fällt ein Blatt

(Issa, 1763-1827)

An allen Häusern
geschlossenen Türen:
Das Dorf im Winter

(Masaoka Shiki, 1867-1902)

Kein Himmel,
keine Erde - aber immer noch
fallen Schneeflocken

(Hashin, 1864-?)

Nach Mitternacht:
Im Wasser des Reisfelds
die Milchstraße

(Izen, 1652-1710)

Am Grund des Wassers
ruhen auf dem Stein
die gefallenen Blätter

(Joso, 1661-1704)

Vom Wintersturm
blieb am Ende nur
das Meeresrauschen

(Ikenishi Gonsui, 1650-1722)

Webtipps Haiku Haiku im Internet

Übers Haikuschreiben finden sich bei ziemlichkraus einige Hinweise. Auch empfehlenswert: der Kurs von Geoge Marsh, der allerdings englischsprachig ist. Die Zentrale der deutschsprachigen Haikudichter ist Haiku heute, wo man auch Haiku veröffentlichen kann.

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