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Christian MorgensternChristian Morgenstern

wird meistens nur in seinem Aspekt als Humorist und Sprachspieler wahrgenommen. Von skurriler Phantasie umstrickt, schmunzelt man über seine drolligen Verse und ungewöhnlichen Perspektiven, kennt manches von kleinauf (so Das ästhetische Wiesel, hier unter KindergedichteKindergedichte), und es geht schnurrig und gemütlich zu:

Die zwei Wurzeln

Zwei Tannenwurzeln groß und alt
unterhalten sich im Wald.

Was droben in den Wipfeln rauscht,
das wird hier unten ausgetauscht.

Ein altes Eichhorn sitzt dabei
und strickt wohl Strümpfe für die zwei.

Die eine sagt: knig. Die andre sagt: knag.
Das ist genug für einen Tag.

 

Bim, Bam, Bum

Ein Glockenton fliegt durch die Nacht,
als hätt er Vogelflügel,
er fliegt in römischer Kirchentracht
wohl über Tal und Hügel.

Er sucht die Glockentönin BIM,
die ihm vorausgeflogen;
d.h. die Sache ist sehr schlimm,
sie hat ihn nämlich betrogen.

»O komm«, so ruft er, »komm, dein BAM
erwartet dich voll Schmerzen.
Komm wieder, BIM, geliebtes Lamm,
dein BAM liebt dich von Herzen!«

Doch BIM, daß ihr's nur alle wißt,
hat sich dem BUM ergeben;
der ist zwar auch ein guter Christ,
allein das ist es eben.

Der BAM fliegt weiter durch die Nacht
wohl über Wald und Lichtung.
Doch, ach, er fliegt umsonst! Das macht,
er fliegt in falscher Richtung.

 

Eher heiter und possierlich wirken heutzutage auch die beiden folgenden Texte. Sie sind jedoch Beispiele für Novitäten Morgensterns, die über die Dadaisten und Kurt Schwitters bis zu Konkreter Poesie und Jandl anregend gewirkt haben, "Das große Lalula" als reines Lautgedicht, "Die Trichter" als textliche Grafik.

Das große Lalula

Kroklokwafzi? Semememi!
Seiokrontro - prafriplo:
Bifzi, bafzi; hulalemi:
quasti basti bo...
Lalu lalu lalu lalu la!

Hontraruru miromente
zasku zes rü rü?
Entepente, leiolente
klekwapufzi lü?
Lalu lalu lalu lalu la!

Simarar kos malzipempu
silzuzankunkrei (;)!
Marjomar dos: Quempu Lempu
Siri Suri Sei []
Lalu lalu lalu lalu la!

 

Die Trichter

Zwei Trichter wandeln durch die Nacht.
Durch ihres Rumpfs verengten Schacht
fließt weißes Mondlicht
still und heiter
auf ihren
Waldweg
u.s.
w.

 

Nicht mehr nur harmlos und beschaulich wirken hingegen schon "Der Lattenzaun", dem moderne Grundbefindlichkeiten wie Ohnmacht und Unheimlichkeit innewohnen, oder "Der Hecht", dessen satirische Opfer normalerweise solchen Spaß nicht vertragen.

Der Lattenzaun

Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.

Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da -

und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.

Der Zaun indessen stand ganz dumm
mit Latten ohne was herum,

ein Anblick gräßlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.

Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri - od - Ameriko.

 

Der Hecht

Ein Hecht, vom heiligen Anton
bekehrt, beschloß, samt Frau und Sohn,
am vegetarischen Gedanken
moralisch sich emporzuranken.

Er aß seit jenem nur noch dies:
Seegras, Seerose und Seegrieß.
Doch Grieß, Gras, Rose floß,
o Graus, entsetzlich wieder hinten aus.

Der ganze Teich ward angesteckt.
Fünfhundert Fische sind verreckt.
Doch Sankt Anton, gerufen eilig,
sprach nichts als »Heilig! heilig! heilig!«

 

Morgenstern hat zu solcherart Gedichten geäußert, sie sollten »die sinnlos gewordene Welt einmal auf den Kopf stellen und entspannen«. Diese Art Entspannung impliziert also eine als absurd empfundene Welt, beinhaltet elitäre Abwendung von dieser, hat ein Fatalistisches, ja makaberes Moment. So ist es dem Gedicht zu entnehmen, dessen Titel den ersten, 1905 erschienen Zyklus grotesk-phantastischer Gedichte, die "Galgenlieder", quasi mit einer begründenden Unterlage versieht. Diesem sei als weiteres Exempel ein Text aus dem anderen berühmten Zyklus "Palmström" (1910) angefügt, dessen Schlussverse zu einem geflügelten Wort geworden sind.

Galgenberg

Blödem Volke unverständlich
treiben wir des Lebens Spiel. 
Gerade das, was unabwendlich, 
fruchtet unserm Spott als Ziel.

Magst es Kinder-Rache nennen 
an des Daseins tiefem Ernst; 
wirst das Leben besser kennen, 
wenn du uns verstehen lernst.

 

Die unmögliche Tatsache

Palmström, etwas schon an Jahren,
wird an einer Straßenbeuge
und von einem Kraftfahrzeuge
überfahren.

Wie war (spricht er, sich erhebend
und entschlossen weiterlebend)
möglich, wie dies Unglück, ja -:
dass es überhaupt geschah?

Ist die Staatskunst anzuklagen
in Bezug auf Kraftfahrwagen?
Gab die Polizeivorschrift
hier dem Fahrer freie Trift?

Oder war vielmehr verboten
hier Lebendige zu Toten
umzuwandeln - kurz und schlicht:
Durfte hier der Kutscher nicht -?

Eingehüllt in feuchte Tücher,
prüft er die Gesetzesbücher
und ist alsobald im klaren:
Wagen durften dort nicht fahren!

Und er kommt zu dem Ergebnis:
Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil, so schließt er messerscharf,
nicht sein kann, was nicht sein darf.

 

Bissige Satire ist ein Element unter Morgensterns humoristisch-spielerischer Oberfläche, so dass manche seiner Texte zu Erfolgen auf den Kabarettbühnen seiner Zeit wurden. Sein anderer Antrieb ist die Wahrheitssuche, die ihn bis in religiös-mystische Bereiche trieb, in einer als zerrissen erlebten Welt. Die diesbezügliche Ratlosigkeit manifestiert sich im Dämon, der "Das Symbol des Menschen" gezeigt bekommt; dem folgen zwei Epigramme, die für Morgensterns grüblerische, doch niemals dunkle Gedankenlyrik stehen.

Das Symbol des Menschen

»Zeig mir«, sprach zu mir ein Dämon,
»zeig mir das Symbol des Menschen,
und ich will dich ziehen lassen.«
Ich darauf, mir meine schwarzen
Stiefel von den Zehen ziehend,
sprach: »Dies, Dämon, ist des Menschen
schauerlich Symbol; ein Fuß aus
grobem Leder, nicht Natur mehr,
doch auch noch nicht Geist geworden;
eine Wanderform vom Tierfuß
zu Merkurs geflügelter Sohle.«
Als ein Bildnis des Gelächters
stand ich da, ein neuer Heiliger.
Doch der Dämon, unbestimmbar
seufzend, bückte sich und schrieb mit
seinem Finger auf die Erde.

 

Geburtsakt der Philosophie

Erschrocken staunt der Heide Schaf mich an,
als sähs in mir den ersten Menschenmann.
Sein Blick steckt an; wir stehen wie im Schlaf:
mir ist, ich säh zum ersten Mal ein Schaf.

 

Messkunst wird und Forscherlust 
einst noch Gras und Baum befragen: 
und der Wissenschaft wird tagen, 
was der Weisheit längst bewußt.

 

Um weitere Facetten ist Morgenstern nicht verlegen, so etwa hochsensible Naturlyrik (siehe Lied in FrühlingsgedichteFrühlingsgedichte) oder Liebesgedichte von ungewöhnlicher Wärme:

Ich liebe dich, du Seele, die da irrt
im Tal des Lebens nach dem rechten Glücke,
ich liebe dich, die manch ein Wahn verwirrt,
der manch ein Traum zerbrach in Staub und Stücke.

Ich liebe deine armen wunden Schwingen,
die ungestoßen in mir möchten wohnen;
ich möchte dich mit Güte ganz durchdringen;
ich möchte dich in allen Tiefen schonen.

 

Hier im Wald mit dir zu liegen,
moosgebettet, windumatmet,
in das Flüstern, in das Rauschen
leise liebe Worte mischend,
öfter aber noch dem Schweigen
lange Küsse zugesellend,
unerschöpflich - unersättlich,
hingegebne, hingenommne,
ineinander aufgelöste,
zeitvergessne, weltvergessne.
Hier im Wald mit dir zu liegen,
moosgebettet, windumatmet...

 

Und köstlich selbstironisch, gegen alle konventionellen Striche bürstend und mit einem süß-gesunden Schuss Bosheit setzt sich dieser sublime Dichter hier noch einen finalen

Denkmalswunsch

Setze mir ein Denkmal, eher,
ganz aus Zucker, tief im Meer.

Ein Süßwassersee, zwar kurz,
werd ich dann nach meinem Sturz;

doch so lang, dass Fische, hundert,
nehmen einen Schluck verwundert.

Diese isst in Hamburg und
Bremen dann des Menschen Mund.

Wiederum in eure Kreise
komm ich so auf gute Weise,

während, werd ich Stein und Erz
nur ein Vogel seinen Sterz

oder gar ein Mensch von Wert
seinen Witz auf mich entleert.

 

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