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Religiöse Gedichte

Vom Beginn der Überlieferung an sind vielerlei Formen der Lyrik zum Ausdruck religiöser Vorstellungen gebraucht sowie in Kulte und Riten eingebaut worden.
In einem der ältesten überlieferten religiösen Texte überhaupt, dem nordindischen Rigveda, wird zu Beginn dieser Auswahl der Uranfang der Welt verkündigt, verbunden mit einem bis zum Ende bohrenden Zweifel. Hymnischer und selbstgewisser entwirft die Edda als Dokument nordgermanischer Mythologie die Ursprünge des Seins. Solcherart Gesänge, Hymnen und Gebete kennt man aus dem Alten Testament als Psalmen. Durchaus liedhaft und poetisch sind auch viele Passagen im Koran (= die Lesung) des Mohammed, aus dem hier drei kurze Kapitel (Suren) in Rückerts Nachdichtung folgen. Den Abschluss dieses kurzen globalen Rundgangs durch die fundamentalen religiösen Sprachmäler bildet ein epigrammatisch zugespitzter Spruch Laotses, des legendären Begründers des Taoismus.

Der Uranfang

Weder ein Etwas war damals, noch auch ein Nichts war das Weltall,
Nicht bestand der Luftraum, noch war der Himmel darüber.
Wo war der Hüter der Welt? Was war ihr Inhalt und welches
Ihre Umhüllung? Was war die Meerflut, die grundlose tiefe?

Nicht regierte der Tod, noch gab es Unsterblichkeit damals,
Und es fehlte das scheidende Zeichen von Tagen und Nächten.
Eins nur atmete ohne zu hauchen aus eigenem Antrieb,
Und kein anderes zweites war außer diesem vorhanden.

Dunkelheit war im Beginne in Dunkelheit gänzlich versunken.
Nebelhaft nur, ein Wassergewoge war damals das Ganze;
Als lebendiger Keim von dem toten Gewoge umfangen,
Ließ sich das Eine gebären von feurigem Drange getrieben.

Über das Eine ist anfangs ein liebendes Sehnen gekommen,
Aus bloßen Gedanken entspross der früheste Same.
Also fanden das Band, das Sein mit Nichtsein verknüpfet,
In der Vergangenheit forschend die Weisen mit sinnendemHerzen.

Helle verbreitend drang mitten hindurch ihr geistiges Auge.
Gab es denn damals ein Unten, und gab es schon damals ein Oben?
Sämende Kräfte, sie wirkten, es wirkten die Triebe ins Weite;
Unten die wollende Kraft und oben das männliche Drängen.

Aber wer weiß es gewiss, und wer kann auf Erden erklären:
Woher ist sie entsprungen, von wannen kam sie, die Schöpfung?
Götter sind später entstanden im Laufe der Weltenerschaffung.
Wer weiß also, von wannen die erste Entwicklung gekommen?

Unsere Schöpfung, von wannen sie ihre Entwicklung genommen,
Sei es, dass er sie bereitet hat, sei es auch nicht so -
Der sie als schirmendes Auge vom obersten Himmel beschauet,
Der nur weiß es gewiss! Und wenn selbst er es nicht wüsste?

(aus: Rigveda, entstanden 1750-1200 v.u.Z.;
aus dem Sanskrit von Karl Friedrich Geldner)

Der Seherin Weissagung

Allen Edeln gebiet ich Andacht,
Hohen und Niedern von Heimdalls Geschlecht +;
Ich will Walvaters ++ Wirken künden,
Die ältesten Sagen, der ich mich entsinne,

Riesen acht ich die Urgebornen,
Die mich vor Zeiten erzogen haben.
Neun Welten kenn ich, neun Äste weiß ich
An dem starken Stamm im Staub der Erde +++.

Einst war das Alter, da Ymir ++++ lebte:
Da war nicht Sand nicht See, nicht salzge Wellen,
Nicht Erde fand sich noch Überhimmel,
Gähnender Abgrund und Gras nirgend.

Bis Börs Söhne +++++ die Bälle erhuben,
Sie die das mächtige Midgard schufen.
Die Sonne von Süden schien auf die Felsen
Und dem Grund entgrünte grüner Lauch.

Die Sonne von Süden, des Mondes Gesellin,
Hielt mit der rechten Hand die Himmelrosse.
Sonne wusste nicht wo sie Sitz hätte,
Mond wusste nicht was er Macht hätte,
Die Sterne wussten nicht wo sie Stätte hatten.

Da gingen die Berater zu den Richterstühlen,
Hochheilge Götter hielten Rat.
Der Nacht und dem Neumond gaben sie Namen,
Hießen Morgen und Mitte des Tags,
Under ++++++ und Abend, die Zeiten zu ordnen.

(Edda, 9.-12. Jahrhundert; Anfang des 1. Liedes;
aus dem Isländischen von Karl Simrock.
+ wohl die Menschheit
++ Beiname des obersten Gottes Odin
+++ meint die Weltesche Yggdrasil
++++ der Urriese
+++++ die Ahnen der Götter
++++++ altes Wort für Nachmittag)

Psalm Davids, vorzusingen auf der Gittith

HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, du, den man lobt im Himmel!
Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen, daß du vertilgest den Feind und den Rachgierigen.
Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:
was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, und des Menschenkind, daß du sich seiner annimmst?
Du hast ihn wenig niedriger gemacht denn Gott, und mit Ehre und Schmuck hast du ihn gekrönt.
Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk; alles hast du unter seine Füße getan:
Schafe und Ochsen allzumal, dazu auch die wilden Tiere,
die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und was im Meer geht.
HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen!

(Bibel, Altes Testament, Psalm Nr. 8, Vers 1-10;
aus dem Hebräischen von Martin Luther, revidiert 1912)

Die Eröffnerin des Buches

Im Namen Gottes des allbarmherzigen Erbarmers:
Gelobt sei Gott , der Herr der Welten! 
Der Allbarmherzige, der Erbarmer, 
Der König des Gerichtstags.
Dir dienen wir, dich rufen wir um Hilf' an.
Führ' uns den Weg den graden! 
Den Weg derjenigen, über die du gnadest,
Deren auf die nicht wird gezürnt, 
und deren die nicht irrgehn.

Die Leugner

Im Namen Gottes des allbarmherzigen Erbarmers:
Sprich: O, ihr Leugner!
Nicht bet' ich an, was ihr anbetet,
Noch wollt ihr beten an, was ich anbete,
Noch will ich beten an, was ihr habt angebetet,
Noch sollt ihr beten an, was ich anbete.
Euch Euer Gottesdienst und mir der meine! 

Bekenntnis der Einheit

Im Namen Gottes des allbarmherzigen Erbarmers:
Sprich: Gott ist Einer,
Ein ewig reiner, 
Hat nicht gezeugt und ihn gezeugt hat keiner,
Und nicht ihm gleich ist einer. 

(Mohammed Ibn Abdallah, um 570-632;
Koransuren 1, 109, 112;
aus dem Arabischen von Friedrich Rückert, 1834)

 

Das große Tao ist überströmend,
es kann links sein und rechts.
Alle Wesen verlassen sich auf es,
um zu leben, und es versagt nicht.

Ist Verdienstliches vollendet,
nennt es dies nicht sein.
Es liebt und nährt alle Wesen
und macht sich nicht Herr.

Ewig ohne Verlangen,
so kann es klein genannt werden.
Alle Wesen kehren sich (zu ihm),
und es macht sich nicht Herr,
so kann es groß genannt werden.

Daher:
Der heilige Mensch macht sich nie groß,
darum kann er seine Größe vollenden.

(Laotse, Taoteking 34;
aus dem Chinesischen von Viktor von Strauß und Torney)

Die Demut und Bescheidenheit, die hier mit dem Tao verbunden sind, tauchen ähnlich auch im Urchristentum auf und bilden einen Traditionsstrang abendländischer Religiösität, verkörpert insbesondere von Franz von Assisi. Nach seinem Sonnengesang sollen zwei deutsche Lyriker, Friedrich HölderlinHölderlin und Novalis, mit einem Altersunterschied von lediglich zwei Jahren repräsentativ den großen Raum von heiterer Dieseitigkeit und mystischer Nachtergebung durchmessen, welcher der christlich-abendländischen Tradition innewohnt.

Der Sonnengesang

Höchster, allmächtiger, gütiger Herr,
Dein ist der Preis und der Ruhm und die Ehre und jeglicher Segen.
Dir allein, Allerhöchster, gebühren sie,
Und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen.

Gepriesen seist du, Herr, mit allen deinen Kreaturen;
Besonders mit der edlen Schwester Sonne,
Die uns den Tag bewirkt und uns erleuchtet durch ihr Licht.
Und schön ist sie und strahlt in großem Glanze. Von dir, o Allerhöchster, ist
                                                                                                           sie Sinnbild.

Gepriesen seist du, Herr, durch den Bruder, den Mond und durch die Sterne;
Am Himmel hast du sie gebildet köstlich, hell und schön.

Gepriesen seist du, Herr, durch den Bruder, den Wind,
Auch durch die Luft und Wolken, durch heitere und jede Witterung,
Durch welche du Erhaltung schenkest deinen Kreaturen.

Gepriesen seist du, Herr, durch den Bruder, das Wasser,
Das nützlich ist gar sehr, demütig, kostbar und keusch.

Gepriesen seist du, Herr, durch unsern Bruder, das Feuer,
Durch welches du die Nacht erleuchtest.
Und es ist schön und freudespendend, stark und mächtig.

Gepriesen seist du, Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde,
Die uns ernährt und regiert
Und mannigfache Früchte trägt und bunte Blumen und Kräuter.

Gepriesen seist du, Herr, durch jene, die aus Liebe zu dir verzeihen
Und Schwachheit und auch Trübsal leiden. Selig, die in Frieden dulden,
Weil sie von dir, o Allerhöchster, einst gekrönet werden.

Gepriesen seist du, Herr, durch unsern Bruder, den leiblichen Tod,
Dem nie ein Lebender entrinnen kann.
Weh' jenen, die in schwerer Sünde sterben!
Glückselig jene, die in deinen heiligen Willen sind ergeben,
Denn ihnen wird der zweite Tod kein Leides tun.

Lobet und preiset den Herrn und danket ihm
Und dienet ihm mit großer Demut!

(Franziskus von Assisi, 1881/2-1226;
aus dem Italienischen von Maternus Rederstorff, 1910)

 

Da ich ein Knabe war,
Rettet' ein Gott mich oft
Vom Geschrei und der Rute der Menschen,
Da spielt ich sicher und gut
Mit den Blumen des Hains,
Und die Lüftchen des Himmels
Spielten mit mir.

Und wie du das Herz
Der Pflanzen erfreust,
Wenn sie entgegen dir
Die zarten Arme strecken,
So hast du mein Herz erfreut,
Vater Helios! und, wie Endymion,
War ich dein Liebling,
Heilige Luna!

O all ihr treuen
Freundlichen Götter!
Daß ihr wüßtet,
Wie euch meine Seele geliebt!

Zwar damals rief ich noch nicht
Euch mit Namen, auch ihr
Nanntet mich nie, wie die Menschen sich nennen,
Als kennten sie sich.

Doch kannt ich euch besser,
Als ich je die Menschen gekannt,
Ich verstand die Stille des Aethers
Der Menschen Worte verstand ich nie.

Mich erzog der Wohllaut
Des säuselnden Hains
Und lieben lernt ich
Unter den Blumen.

Im Arme der Götter wuchs ich groß.

(Friedrich Hölderlin, 1770-1843)

Sehnsucht nach dem Tode

Hinunter in der Erde Schoß,
Weg aus des Lichtes Reichen,
Der Schmerzen Wut und wilder Stoß
Ist froher Abfahrt Zeichen.
Wir kommen in dem engen Kahn
Geschwind am Himmelsufer an.

Gelobt sei uns die ewge Nacht,
Gelobt der ewge Schlummer.
Wohl hat der Tag uns warm gemacht,
Und welk der lange Kummer.
Die Lust der Fremde ging uns aus,
Zum Vater wollen wir nach Haus.

Was sollen wir auf dieser Welt
Mit unsrer Lieb' und Treue.
Das Alte wird hintangestellt,
Was soll uns dann das Neue.
O! einsam steht und tiefbetrübt,
Wer heiß und fromm die Vorzeit liebt.

Die Vorzeit wo die Sinne licht
In hohen Flammen brannten,
Des Vaters Hand und Angesicht
Die Menschen noch erkannten.
Und hohen Sinns, einfältiglich
Noch mancher seinem Urbild glich.

Die Vorzeit, wo noch blütenreich
Uralte Stämme prangten,
Und Kinder für das Himmelreich
nach Qual und Tod verlangten.
Und wenn auch Lust und Leben sprach,
Doch manches Herz für Liebe brach.

Die Vorzeit, wo in Jugendglut
Gott selbst sich kundgegeben
Und frühem Tod in Liebesmut
Geweiht sein süßes Leben.
Und Angst und Schmerz nicht von sich trieb,
Damit er uns nur teuer blieb.

Mit banger Sehnsucht sehn wir sie
In dunkle Nacht gehüllet,
In dieser Zeitlichkeit wird nie
Der heiße Durst gestillet.
Wir müssen nach der Heimat gehn,
Um diese heilge Zeit zu sehn.

Was hält noch unsre Rückkehr auf,
Die Liebsten ruhn schon lange.
Ihr Grab schließt unsern Lebenslauf,
Nun wird uns weh und bange.
Zu suchen haben wir nichts mehr -
Das Herz ist satt - die Welt ist leer.

Unendlich und geheimnisvoll
Durchströmt uns süßer Schauer -
Mir däucht, aus tiefen Fernen scholl
Ein Echo unsrer Trauer.
Die Lieben sehnen sich wohl auch
Und sandten uns der Sehnsucht Hauch.

Hinunter zu der süßen Braut,
Zu Jesus, dem Geliebten -
Getrost, die Abenddämmrung graut
Den Liebenden, Betrübten.
Ein Traum bricht unsre Banden los
Und senkt uns in des Vaters Schoß.

(Novalis, 1772-1801; Abschlussgedicht der "Hymnen an die Nacht")

Das in diesem Zusammenhang Bemerkenswerteste in der lyrischen Tradition Europas ist jedoch die Häufigkeit und zunehmende Schärfe des Widerstands gegen die herrschende Religion. Goethes Sturm-und-Drang-Hymne Prometheus ist eines der frühesen Beispiele, das Auflehnung gegen den Allmächtigen predigt (auf diesen Seiten ergänzt vonHeinrich HeineHeines Adam der Erste, und Christian MorgensternMorgensterns Satire Der Hecht). Mit einem überlegenen Grinsen, das erfriert, spricht danach Wilhelm BuschBusch von Religion, die Herwegh noch drastischer und folgenreicher als etwas Totes vorstellt. Für Heym sind Gott und biblische Motive schließlich nur noch Metaphernfassaden, um das apokalyptische Getriebe moderner Großstädte zu brandmarken.

Prometheus

Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst!
Und übe, Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn!
Mußt mir meine Erde
Doch lassen stehn,
Und meine Hütte,
Die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.

Ich kenne nichts Ärmer's
Unter der Sonn' als euch Götter.
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.

Da ich ein Kind war,
Nicht wußt', wo aus, wo ein,
Kehrte mein verirrtes Aug'
Zur Sonne, als wenn drüber wär'
Ein Ohr, zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.

Wer half mir wider
Der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?
Hast du's nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest, jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden dadroben?

Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillt
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herrn und deine?

Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehn,
Weil nicht alle Knabenmorgen-
Blütenträume reiften?

Hier sitz' ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen,
Genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich.

(Johann Wolfgang von Goethe, 1749-1832)

Überliefert

Zu Olims Zeit, auf der Oase
Am Quell, wo schlanke Palmen stehen,
Saß einst das Väterchen im Grase
Und hatte allerlei Ideen.

Gern sprach davon der Hochverehrte
Zu seinen Söhnen, seinen Töchtern,
Und das Gelehrte, oft Gehörte
Ging von Geschlechte zu Geschlechtern.

Auch wir in mancher Abendstunde,
Wenn treue Liebe uns bewachte,
Vernahmen froh die gute Kunde
Von dem, was Väterchen erdachte.

Und sicher klingt das früh Gewusste
So lang in wohlgeneigte Ohren,
Bis auf der kalten Erdenkruste
Das letzte Menschenherz erfroren.

(Wilhelm Busch, 1832-1908)

Herüber zog eine schwarze Nacht

Herüber zog eine schwarze Nacht.
Die Föhren rauschten im Sturme;
Es hat das Wetter wild zerkracht
Die Kirche mit ihrem Turme.

Zerschmettert das Kreuz; zerdrückt den Altar;
Zermalmt das Gebein in den Särgen -
Die gotischen Bögen wälzen sich
Donnernd hinab von den Bergen.

Zum Dorfe stürzt sich Turm und Chor
Als wie zu einem Grabe -
Da fährt entsetzt vom Lager empor
Und spricht zur Mutter der Knabe:

"Ach Mutter, mir träumte ein Traum so schwer,
Das hat den Schlaf mir verdorben.
Ach Mutter, mir träumte, soeben wär'
Der liebe Herr Gott gestorben."

(Georg Herwegh, 1817-1875)

Der Gott der Stadt

Auf einem Häuserblocke sitzt er breit,
Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
Die letzten Häuser in das Land verirrn.

Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,
Die großen Städte knien um ihn her.
Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.

Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik
Der Millionen durch die Straßen laut.
Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.

Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen.
Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
Von einem Haupthaar, das im Zorne sträubt.

Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust,
Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
Und frisst sie auf, bis spät der Morgen tagt.

(Georg Heym, 1887-1912)

Nach soviel Weite und Zwist in der europäischen lyrischen Religiösität wenden wir den Blick zum Ende wieder ins Globale, um über den selbstwusst-autarken Amerikaner Thoreau über den skeptischen japanischen Zen-Meister Dogen nochmals bei Laotse zu landen, der uns den wahren Quell von Weisheit, Berufung und Heiligkeit nennt: die eigene Psyche.

Rauch

Leicht-geflügelter Rauch, Ikarischer Vogel,
dem die Fittiche im Aufflug schmelzen;
Lerche ohne Gesang und Bote der Dämmerung,
der über den nistenden Weilern kreist;
oder auch scheidender Traum und Schattengestalt
der Mitternacht, die deine Röcke aufrafft;
in der Nacht verschleierst du die Sterne und am Tag
verdunkelst du das Licht und radierst die Sonne aus:
Steige du, mein Weihrauch, von diesem Herd auf
und bitte die Götter, diese reine Flamme zu verzeihen.

(Henry David Thoreau, 1817-1862;
aus dem Englischen von Wersch)

 

Ach, den Wolken gleich treiben wir durch Geburten und Tode!
Den Pfad des Unwissens und den Pfad der Erleuchtung - wir wandeln
                                                                                               sie träumend.
In meinem Gedächtnis haftet nur eins, auch nach dem Erwachen:
Des Regens Rauschen, dem einst des Nachts in der Hütte ich lauschte.

(Dogen, 1200-1253;
aus dem Japanischen von ? )

 

Ohne aus der Tür zu gehen,
kennt man die Welt.
Ohne aus dem Fenster zu schauen,
sieht man den SINN des Himmels.
Je weiter einer hinausgeht,
desto geringer wird sein Wissen.

Darum braucht der Berufene nicht zu gehen
und weiß doch alles.
Er braucht nicht zu sehen
und ist doch klar.
Er braucht nichts zu machen
und vollendet doch.

(Laotse, Taoteking 47;
aus dem Chinesischen von Richard Wilhelm)

 

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Die alten Dokumente religiöser Literatur und die hier verwandten Übersetzungen lassen sich unter den folgenden Adressen komplett nachlesen: Laotses Taoteking, Götter- und Heldenlieder der Edda, eine Bibel-Konkordanz, den Rigveda in Sanskrit und Deutsch und Ausschnitte des Koran in Arabisch und der Rückert-Nachdichtung.
Bei Gedichte für alle Fälle sind zahlreiche religiöse Kontexte unter den Rubriken Festtagsgedichten, Gedankenlyrik und Weihnachtsgedichte zu finden.

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