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Ludwig Thoma

Ludwig Thoma kam in Bayern zur Welt - am 21.1.1867 in Oberammergau - und verließ sie auch wieder in Bayern - am 26.8.1921 in Rottach am Tegernsee -, und anders kann das auch gar nicht sein, denn er ist der Urtyp des bayerischen Schriftstellers.

Sein Bekanntheitsgrad hielt sich vor allem durch seine Prosa: Ein Münchner im Himmel oder die Lausbubengeschichten sind noch heute Viellesern ein Begriff bzw. auch TV-Guckern mit einer Vorliebe für alte deutsche Filme. Zu seiner Zeit galt er auch als Dramenschreiber etwas, allerdings etwas gehandicapt durch die bayerische Mundart, in der er seine Stücke verfasste.

Am schnellsten verflüchtigt hat sich sein Ruf als Dichter, denn seine Gedichte wurden größtenteils unter dem Pseudonym Peter Schlehmil in der wöchentlich erscheinenden Satirezeitschrift Simplicissimus veröffentlicht, waren daher oft bezogen auf aktuelle Ereignisse. Doch soll das kein Hindernis sein, Thoma als Lyriker zu würdigen. Manchmal muss man nur lang genug warten, damit das Aktuelle von gestern das Aktuelle von heute wird:

Resignation

Es gibt noch Leute, die sich quälen,
Aus denen sich die Frage ringt:
Wie wird der Deutsche nächstens wählen?
Wie wird das, was die Urne bringt?

Die Guten! Wie sie immer hoffen!
Wie macht sie doch ein jedes Mal
Der Ausfall neuerdings betroffen!
Als wär' er anders, wie normal!

Wir wissen doch von Adam Riese,
Dass zwei mal zwei gleich vieren zählt.
Und eine Wahrheit fest wie diese
Ist, dass man immer Schwarze wählt.

Das Faktum lässt sich nicht bestreiten,
Auch wenn es noch so bitter schmeckt.
Doch hat das Übel gute Seiten:
Es ruhet nicht auf Intellekt.

Man muss die Sache recht verstehen;
Sie ist nicht böse, ist nicht gut.
Der Deutsche will zur Urne gehen,
So wie man das Gewohnte tut.

Wer hofft, dass es noch anders würde,
Der täuscht sich hier, wie überall.
Die Schafe suchen ihre Hürde,
Das Rindvieh suchet seinen Stall.


Ludwig Thomas berufliche Karriere wies zunächst nicht in Richtung Literatur. Von 1886 bis 1890 studierte er Jura in München und Erlangen. Anschließend durchlief er vier Jahre ein Rechtspraktikum bei Gericht und in der Verwaltung, bevor er sein zweites Staatsexamen ablegte. Mit der Laufbahn in öffentlichen Ämtern oder bei Gericht konnte sich Thoma jedoch nicht anfreunden. Zu abschreckend waren die studierten Exempel während seiner Praktikumszeit.

Assessorchen

Ein Bezirksamtsassessorchen, nicht wahr?
Schreibt mit krummen Fingern das ganze Jahr;
Sein Horizöntchen - na ja, ihr wisst,
Wie ein Assessorhorizöntchen ist.
Zuerst der Komment, dann Examennot,
Dann die Sorge um das tägliche Brot,
Die eigene Meinung bänglich versteckt
Und immer korrekt - und immer korrekt.
Ein bisschen Angst und ein bisschen Schiss
Vor jedem Karrierehindernis.
Sich kümmerlich kümmern den ganzen Tag,
Ob der Vorgesetzte ihn leiden mag,
Und ob er ihn endlich qualifiziert,
Dass Assessorchen ein Amtmännchen wird!
Da habt ihr das ganze Konglomerat,
Da habt ihr so ziemlich den ganzen Salat
Gemischten Inhalts im kleinen Gehirn
Hinter der hohen Assessorstirn.
Doch wenn ihr glaubt, so ein Herrchen wird
Nur für den spätren Dienst präpariert
Und hat ein Ämtchen von kleinem Gewicht,
Ihr Herren, da irrt ihr, so ist es nicht.
Trotz Horizöntchen - ei hört doch nur!
Assessorchen hat die Pressezensur!
Beschnüffelt, verbietet und konfisziert,
Bestimmt höchstselbst, was gelesen wird,
Bewacht als ein treuer Gewissensrat
Gesellschaft, Kirche und unsern Staat.
Ja, ja, ihr Leute! Und wenn euch bangt,
Dass sein Gehirnchen dafür nicht langt,
So sollt ihr denken: »Dem Vaterland
Ist wenig geholfen mit viel Verstand,
Gesinnungstüchtig, so voll und ganz,
Ist immer nur eines - die Ignoranz.«


So eröffnete Ludwig Thoma 1894 seine eigene Anwaltspraxis; zunächst in Passau, später siedelte er nach München über. Gleichzeitig unternahm er erste ernsthafte Versuche, es mit dem Schreiben zu probieren. 1897 erschien Agricola , ein Buch mit Geschichten vom bayerischen Lande, das an die Darstellung der Germanen des Römers Tacitus anknüpfte.

Nach ersten Veröffentlichungen im Simplicissimus wurde Ludwig Thoma 1899 Redakteur der Zeitschrift und gab seine Anwaltspraxis auf.

Grässliches Unglück,
welches eine deutsche Familie betroffen hat

Im Wirtshaus sitzt der Vater,
Die Mutter im Theater,
Sie schwelgt im Kunstgenuss.
Die Tochter, unschuldsreine,
Liest still beim Lampenscheine
Den Simplicissimus.

Wie alle höh'ren Töchter
Hat sie nicht der Geschlechter
Verschiedenheit gekennt.
Doch als sie dies gelesen,
Ist alles futsch gewesen,
Was man moralisch nennt.

Sie ließ den Storchenglauben
Wohl über Nacht sich rauben,
Und sonst noch mancherlei.
Sie las vergnügt die Witze,
Verstand die frechste Spitze,
Und wusste, was es sei.

Als dies die Mutter ahnte
Und ihr das Schlimmste schwante,
Sprach sie nicht einen Ton.
Sie schloss in ihrer Kammer
Sich ein, mit ihrem Jammer
Und einem Bariton.

Noch tiefer ist gesunken
Der Vater. Schwer betrunken
Holt er sich bald die Gicht.
Wie war er gut katholisch!
Jetzt ist er alkoholisch,
Bis dass sein Bierherz bricht.

Er geht nicht mehr von hinnen,
Poussiert die Kellnerinnen
Vor Gram und Überdruss.
Und wer hat das verschuldet?
Der, den man leider duldet,
Der Simplicissimus!


Ludwig Thoma fühlte sich sehr wohl beim Simplicissimus, was auch an der zwanglosen Organisation der redaktionellen Arbeit lag, wie er in seinen Erinnerungen schreibt:

Wir standen als angehende Dreißiger fast alle im gleichen Alter, hatten keinen Willen als den eigenen zur Richtschnur und handelten nur nach Gesetzen, die wir uns selbst im Interesse der Sache auferlegten.

Es gab keinen Chef, dessen Meinung oder Wünsche zu berücksichtigen waren; es gab keine äußerliche, außerhalb des Könnens und der Förderung des Ganzen liegende Autorität; die ruhte auf Persönlichkeit und Leistung.


Die Palette der Themen reichte bei Thoma vom allerhöchsten Kaiserkult bis zu tief sitzenden, schlüpferigen Bedürfnissen.

Westfälische Kaisertage

Es wirbelt der Staub, es tutet das Horn;
Was rasselt und knattert und brauset da vorn?
Dort kommt mit hellen Fanfaren
Der Kaiser, der Kaiser gefahren.

Frau Lehmann und Schulz, ihr zittert so sehr,
Nun kommt euer Herrscher im Sturme daher.
Ihr dürft jetzt das Schönste genießen,
Den Kaiser, den Kaiser zu grüßen.

Und knax-ta ratax, da fährt Er vorbei ...
Erhebt eure Herzen, erhebt ein Geschrei!
Dort hinter der staubigen Wolke,
Dort sitzt Er, verborgen dem Volke.

»O chott! Frau Nachbar, und saht ihr Ihn nicht?
Ik gloobe, Er machte ein ernstes Gesicht.«
»Ich hab' Ihn nicht deutlich gesehen,
Doch fühl' ich, mir ist was geschehen.«

Das Herz voller Lust, das Maul voller Dreck,
So ziehet der preußische Untertan weg.
Mit Staub sind die Augen verkleistert,
Doch leuchten sie lange begeistert.

Erster Mai

Ja, das war ein erster Mai!
Dreckig waren alle Straßen,
Auch der Wind hat kalt geblasen,
So, als wenn es Winter sei.

Unsre junge Mädchenschar
Trug verstärkte Unterhosen,
Und es konnte wohl erbosen,
Wem es etwa lästig war.

Nichts von Spitzen oder Mull!
Und von den Naturgenüssen
Hat man sich enthalten müssen,
Denn es war fast unter Null.

Alle haben sich geschont,
Die sonst gerne unterliegen,
Um nicht den Katarrh zu kriegen.
Und das heißt man Wonnemond!


Dabei hatten die Autoren des Simplicissimus immer wieder mit der Justiz des Kaiserreichs zu kämpfen. Der Verleger Albert Langen verbrachte fünf Jahre im Ausland wegen einer leidigen kaiserlichen Affäre, Ludwig Thoma musste sechs Wochen in Haft, weil er einem Kölner Sittlichkeitsverein verbal zu nahe getreten war.

Fortschritt

Wenn sich unsres Vaters Vater
Innerlich erquicken wollte,
Las er seinen Friedrich Schiller:
Wie er den Tyrannen grollte.

Wie er recht aus treuem Herzen
Für die Freiheit alles wagte
Und nach guter Schwabensitte
Seine Meinung gründlich sagte.

Und je derber, und je gröber,
Desto mehr erfreut's den Alten.
Damals hat man auf des Tones
Feinheit nicht so viel gehalten.

Für den Thron erglühten damals
Nicht so heilig die Gemüter,
Und des Herrschers Launen galten
Noch nicht als die höchsten Güter.

Fußgetret'ne stille Demut
Scheint den Enkeln erst geboten,
Und die Herren Staatsanwälte
Züchten gute Patrioten.


Nach Ludwig Thomas Verständnis waren die Attacken des Simplicissimus auf die Mächtigen im Staate nicht Angriffe um ihrer selbst willen oder um das bestehende System zu beseitigen. Er nahm für sich den Mut und sogar die Pflicht in Anspruch, dort Kritik zu üben, wo Sonntags-Patrioten lautstark schwiegen.

An die Nationalen

Ihr alle, die ihr treu und bieder seid,
Und die ihr patriotisch uns verdammt,
Und denen hinterm scharfen Brillenglas
Das blaue Auge in Entrüstung flammt,

Ihr hebt die Hände drohend gegen uns,
Und schwarze Galle fließt euch ins Gemüt,
Ihr sagt, dass uns die Heimatliebe fehlt,
Die euch so deutsch in tapfern Herzen glüht.

Ich bitte euch, ihr Männer guter Art,
Wenn ihr das Vaterland so brünstig liebt,
Warum ist keiner unter euch so deutsch,
Dass er der Wahrheit furchtlos Ehre gibt,

Wenn unserm Land von oben Schaden droht?
Macht euch nicht schamrot der verdiente Hohn,
Der in dem Lächeln unsrer Nachbarn liegt?
Was steht ihr feige schweigend vor dem Thron?

Sagt doch ein Wörtchen! Sagt, was jeder denkt!
Fällt euch das Deutschtum in das Hosenbein?
Und seid ihr bieder auch beim Festkommers,
In Fürstensälen könnt ihr's nimmer sein.

Theaterhelden, schert euch fort! Und wenn
Nur einem unter euch die Feigheit schwand,
Dann sei das Predigen euch gern erlaubt,
Dann schwätzt uns wieder von dem Vaterland.


Dieses Selbstverständnis, Nationalbewusstsein durch Kritik zu zeigen, ist ein erster Hinweis auf die sonst kaum nachvollziehbare Wendung, die Ludwig Thoma und der Simplicissimus bei Ausbruch des ersten Weltkriegs vollzogen.

Friede
(im Simplicissimus veröffentlicht am 17.6.1902)

Über die Heide geht der Wind;
Es flüstert im Gras, es rauscht in den Bäumen.
Die dort unten erschlagen sind,
Die vielen Toten, sie schweigen und träumen.

Hören sie nicht den Glockenklang?
Dringt nicht  zu ihnen aus heiligen Räumen
Halleluja und Friedenssang?
Die vielen Toten, sie schweigen und träumen.

Voll des Dankes ist alle Welt,
Sie darf mit dem Lobe des Herrn nicht säumen;
Wer im Kampfe fiel, heißt ein Held.
Die vielen Toten, sie schweigen und träumen.

Wenn die Herrscher versammelt sind,
Bei festlichem Mahl lasst die Becher schäumen!
Über die Heide geht der Wind;
Die vielen Toten, sie schweigen und träumen.

 

Mein Dorf
(im Simplicissimus veröffentlicht am 15.9.1914)

Stille Täler, kleine Leute,
Wie hat uns das Schicksal heute
Mitten ins Getrieb' gestellt!
Jede Seele fasst ein Ahnen,
An die Herzen dringt ein Mahnen
Aus der einst so fernen Welt.

Sorge, die uns gestern drückte,
Freude, die uns einst beglückte,
Ist uns heute armer Tand.
Unser Denken, unser Leben
Ist mit einem hingegeben
An das große Vaterland.

Kräfte, die wir selbst nicht kannten,
Feuer, die verborgen brannten,
Lodern auf in heller Glut.
Und dass wir's mit Augen sehen,
Dieses köstliche Geschehen
Bleibe unser bestes Gut!


Wen Thoma glaubte verteidigen zu müssen, zeigt die Momentaufnahme einer Zugfahrt von München nach Tegernsee am Abend des 1.8.1914:

Eine herrliche, duftige Sommernacht. Feierabend war um alle kleinen Häuser, und das Behagen nach einem arbeitsreichen Tage lag über den Feldern.

Der Gedanke, dass Krieg sei, kam mir fremd und unfassbar vor.

Der Segen, die Notwendigkeit des Friedens sprach aus dem Schweigen laut zu meinem Herzen, und ich musste mich gewaltsam daran erinnern, dass seit einer Stunde Krieg war.

Dann packte mich die Vorstellung, wie dieses brave, fleißige Volk sich mit seinem Blute das Recht erkaufen müsse, arbeiten zu dürfen, mit seiner Tüchtigkeit Werte für die Menschheit schaffen zu dürfen, und ein grimmiger Hass gegen die Friedensstörer verdrängte jedes andere Gefühl. Jeder Schritt, den Deutschland in friedlicher Tätigkeit vorwärts getan hatte, schuf ihm Feinde. Aus allem, was hier erarbeitet, erschaffen, erdacht worden ist, hat die ganze Welt tausendfältigen Nutzen gezogen, und nun erleben wir, dass eine Macht, deren Fäulnis unseren Erdteil vergiftet, den Segen deutscher Arbeit vernichten will.

Da ist kein Raum mehr für friedliche Gedanken.

(Ludwig Thoma: Stimmungen)

Im Nachhinein ist es leicht zu sagen, Ludwig Thoma hätte es besser wissen müssen, da er sich jahrelang mit den selbstherrlichen Führungszirkeln des Reiches beschäftigt hatte. Tatsächlich meldete er sich im Alter von 47 Jahren sogar freiwillig für den Kriegsdienst und fand Verwendung als Sanitäter.

Was am nächsten einem Eingeständnis gleichkommt, dass er sich wie so viele andere getäuscht hatte, findet sich in einem Brief an die Frankfurter Zeitung aus dem Januar 1919:

Bis zum Juli 1917 hatte ich mich strenge dazu angehalten, schweigend an die Autorität derer zu glauben, die am Ruder standen und verantwortlich waren; hinterher bröckelte es vom Glauben ab, doch der Optimismus blieb. Da heute die Pessimisten die gescheiteren sind, war ich der Dümmere. Das schmerzte mich wenig, wenn es besser um Deutschland stünde.


So bleibt festzuhalten, dass Thoma keinen Unterschied zwischen Leben und Schreiben machte. Er war ein Volksdichter und tat mit aller Konsequenz das, von dem er glaubte, dass es das Beste für "sein Volk" sei. Er polemisierte, wenn es da oben stank, und zog in den Kampf, als es brannte. Dass er dabei in seinen letzten Lebensjahren nach dem Krieg zu weit ging, indem er in Zeitungskommentaren zu antisemitischen Parolen griff, ist die traurige Fußnote seines Lebens.

Webtipps Thoma Ludwig Thoma im Internet

Einen ausführlichen Lebenslauf, Gedichte, Dramen und Prosa hält zeno.org bereit. Bei Prof. Gajek von der Uni Regensburg liegt der Schwerpunkt auf einem Verzeichnis der Werke von und über Ludwig Thoma. Der Simplicissimus hat ebenfalls eine Heimat im Netz gefunden. Ein Archiv mit allen Ausgaben im PDF-Format bietet simplicissimus.info.

 

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