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Zeit-Gedichte

Man kann sie nicht sehen, man kann sie nicht hören, riechen, schmecken oder fühlen kann man sie auch nicht. Die Zeit ist ein schwer zu fassendes Phänomen. Ob da Emanuel Geibels Vorschlag weiterhilft?

Die Zeit ist wie ein Bild von Mosaik;
Zu nah beschaut, verwirrt es nur den Blick;
Willst du des Ganzen Art und Sinn verstehn,
So musst du's, Freund, aus rechter Ferne sehn.

Einige Dichter-und-Denker-Größen haben sich mit der Zeit abgeplagt. Einer der ersten bekannten Versuche stammt vom Barockdichter Paul Fleming:

Gedanken über der Zeit

Ihr lebet in der Zeit und kennt doch keine Zeit;
so wißt, ihr Menschen, nicht von und in was ihr seid.
Diß wißt ihr, daß ihr seid in einer Zeit geboren
und daß ihr werdet auch in einer Zeit verloren.
Was aber war die Zeit, die euch in sich gebracht?
Und was wird diese sein, die euch zu nichts mehr macht?
Die Zeit ist was und nichts, der Mensch in gleichem Falle,
doch was dasselbe was und nichts sei, zweifeln alle.
Die Zeit, die stirbt in sich und zeugt sich auch aus sich.
Diß kömmt aus mir und dir, von dem du bist und ich.
Der Mensch ist in der Zeit; sie ist in ihm ingleichen,
doch aber muß der Mensch, wenn sie noch bleibet, weichen.
Die Zeit ist, was ihr seid, und ihr seid, was die Zeit,
nur daß ihr wenger noch, als was die Zeit ist, seid.
Ach daß doch jene Zeit, die ohne Zeit ist, käme
und uns aus dieser Zeit in ihre Zeiten nähme,
und aus uns selbsten uns, daß wir gleich könten sein,
wie der itzt jener Zeit, die keine Zeit geht ein!

(Paul Fleming, 1609-1640)

Folgt man Geibels Vorschlag nicht, verzichtet auf die abstrakte Erfassung des Phänomens Zeit und geht etwas näher heran, stößt man unweigerlich auf die Vergänglichkeit des Menschen.

Das Leben des Menschen

Das Leben ist
Ein Laub, das grünt und falbt geschwind.
Ein Staub, den leicht vertreibt der Wind.
Ein Schnee, der in dem Nu vergehet.
Ein See, der niemals stille stehet.
Die Blum, so nach der Blüt verfällt.
Der Ruhm, auf kurze Zeit gestellt.
Ein Gras, das leichtlich wird verdrucket.
Ein Glas, das leichter wird zerstucket.
Ein Traum, der mit dem Schlaf aufhört.
Ein Schaum, den Flut und Wind verzehrt.
Ein Heu, das kurze Zeite bleibet.
Die Spreu, so mancher Wind vertreibet.
Ein Kauf, den man am End bereut.
Ein Lauf, der schnaufend schnell erfreut.
Ein Wasserstrom, der pfeilt geschwind.
Die Wasserblas, die bald zerrinnt.
Ein Schatten, der uns macht schabab.
Die Matten, die gräbt unser Grab.

(Georg Philipp Harsdörffer, 1607-1658)

Der Augenblick

Warum denn währt des Lebens Glück
Nur einen Augenblick?
Die zarteste der Freuden
Stirbt wie der Schmetterling,
Der, hangend an der Blume,
Verging, verging.

Wir ahnen, wir genießen kaum
Des Lebens kurzen Traum.
Nur im unsel'gen Leiden
Wird unser Herzeleid
In einer bangen Stunde
Zur Ewigkeit.

(Johann Gottfried Herder, 1744-1803)

Der Titel des Herder-Gedichts führt zu der Strategie, die nicht nur von Dichtern gerne als die rechte Behandlung der Zeit empfohlen wird: Nutze den Augenblick und lebe im Jetzt, gemäß dem lateinischen Carpe diem (wörtlich: Pflücke den Tag).

Betrachtung der Zeit

Mein sind die Jahre nicht die mir die Zeit genommen,
Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen
Der Augenblick ist mein, und nehm' ich den in acht
So ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.

(Andreas Gryphius, 1616-1664)

An Leukon

Rosen pflücke, Rosen blühn,
Morgen ist nicht heut!
Keine Stunde lass entfliehn,
Flüchtig ist die Zeit!

Trinke, küsse! Sieh, es ist
Heut Gelegenheit!
Weisst du, wo du morgen bist?
Flüchtig ist die Zeit!

Aufschub einer guten That
Hat schon oft gereut!
Hurtig leben ist mein Rath,
Flüchtig ist die Zeit!

(Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 1719-1803)

Doch nicht immer ist das "Jetzt, Jetzt, Jetzt" die beste Strategie. Zu viel Hektik schadet der Gesundheit. Die Zeit hat jedoch auch eine heilende eine Eigenschaft, die medizinisch kaum erforscht ist: Sie heilt alle Wunden.

Überlass es der Zeit

Erscheint dir etwas unerhört,
Bist du tiefsten Herzens empört,
Bäume nicht auf, versuchs nicht mit Streit,
Berühr es nicht, überlass es der Zeit.
Am ersten Tage wirst du feige dich schelten,
Am zweiten lässt du dein Schweigen schon gelten,
Am dritten hast du's überwunden;
Alles ist wichtig nur auf Stunden,
Ärger ist Zehrer und Lebensvergifter,
Zeit ist Balsam und Friedensstifter.

(Theodor Fontane, 1819-1898)

Nicht nur als Heilerin ist die Zeit ein besonderes Phänomen, auch physikalisch verhalten sich die Dinge in ihr anders als in den drei räumlichen Dimensionen. Während im Raum etwas desto farbloser erscheint je weiter es weg ist, haben die Dinge in der Vergangenheit die merkwürdige Eigenschaft bunter und strahlender zu werden je weiter sie entfernt sind.

Die Alte

Zu meiner Zeit, zu meiner Zeit
Bestand noch Recht und Billigkeit.
Da wurden auch aus Kindern Leute,
Aus tugendhaften Mädchen Bräute;
Doch alles mit Bescheidenheit.
O gute Zeit, o gute Zeit!
Es ward kein Jüngling zum Verräter,
Und unsre Jungfern freiten später,
Sie reizten nicht der Mütter Neid.
O gute, Zeit, o gute Zeit!

Zu meiner Zeit, zu meiner Zeit
Befliss man sich der Heimlichkeit.
Genoss der Jüngling ein Vergnügen,
So war er dankbar und verschwiegen;
Doch jetzt entdeckt er's ungescheut.
O schlimme Zeit, o schlimme Zeit!
Die Regung mütterlicher Triebe,
Der Vorwitz und der Geist der Liebe
Fährt jetzt oft schon in's Flügelkleid.
O schlimme Zeit, o schlimme Zeit!

Zu meiner Zeit, zu meiner Zeit
ward Pflicht und Ordnung nicht entweiht.
Der Mann ward, wie es sich gebühret,
Von einer lieben Frau regieret,
Trotz seiner stolzen Männlichkeit.
O gute Zeit, o gute Zeit!
Die Fromme herrschte nur gelinder,
Uns blieb der Hut und ihm die Kinder;
Das war die Mode weit und breit.
O gute Zeit, o gute Zeit!

Zu meiner Zeit, zu meiner Zeit
war noch in Ehen Einigkeit.
Jetzt darf der Mann uns fast gebieten,
Uns widersprechen und uns hüten,
Wo man mit Freunden sich erfreut.
O schlimme Zeit, o schlimme Zeit!
Mit dieser Neuerung im Lande,
Mit diesem Fluch im Ehestande
Hat ein Komet uns längst bedräut.
O schlimme Zeit, o schlimme Zeit!

(Friedrich von Hagedorn, 1708-1754)

Obwohl die Vergangenheit ihre Reize hat, bietet auch die Zukunft ihre Verführungen, vor denen der Dichter mahnt.

Zeit

So wandelt sie, im ewig gleichen Kreise,
Die Zeit nach ihrer alten Weise,
Auf ihrem Wege taub und blind.
Das unbefangne Menschenkind
Erwartet stets vom nächsten Augenblick
Ein unverhofftes seltsam neues Glück.
Die Sonne geht und kehret wieder,
Kommt Mond und sinkt die Nacht hernieder,
Die Stunden die Wochen abwärts leiten,
Die Wochen bringen die Jahreszeiten.
Von außen nichts sich je erneut,
In Dir trägst du die wechselnde Zeit,
In Dir nur Glück und Begebenheit.

(Ludwig Tieck, 1773-1850)

Die Flüchtigkeit des Augenblicks, die Verklärung der Vergangenheit, die vergebliche Hoffnung auf zukünftige Wunder; die Zeit macht's einem nicht leicht. Doch Paul Fleming hat schon bei seinem Erklärungsversuch gezeigt, was die Lösung aller Probleme wäre: die Zeitlosigkeit.

Und da die meisten Dichter hoffnungslose Romantiker sind, empfehlen sie zur Überwindung der Zeit was? Natürlich: die Liebe.

Die Uhr zeigt heute keine Zeit

Die Uhr zeigt heute keine Zeit.
Ich bin so glücklich von deinen Küssen,
Dass alle Dinge es spüren müssen.
Mein Herz in wogender Brust mir liegt,
Wie sich ein Kahn im Schilfe wiegt.
Und fällt auch Regen heut ohne Ende,
Es regnet Blumen in meine Hände.
Die Stund', die so durchs Zimmer geht,
Auf keiner Uhr als Ziffer steht;
Die Uhr zeigt heute keine Zeit,
Sie deutet hinaus in die Ewigkeit.

(Max Dauthendey, 1867-1918)

 

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