Ernst Toller - Das Schwalbenbuch

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Am zweiten Tag werde ich zum Spaziergang in den Hof geführt, allein gehe ich im Quadrat des kleinen gepflasterten Hofs, zwei Wächter bewachen mich, an den Fensterflügeln des Gefängnisses hängen Soldaten, sie schimpfen und johlen.

Die Schatten der toten Kameraden begegnen mir, ich sehe die Mauer, an der sechsunddreißig Menschen erschossen wurden, von zahllosen Kugeleinschlägen ist sie durchlöchert, vertrocknete Fleischteile, Gehirnfetzen, Haare kleben daran, die Erde davor narben eingetrocknete Blutlachen. Ich zähle an der Mauer die Einschläge, der Wärter erzählt, warum sie so tief sitzen, die betrunkenen württembergischen Soldaten zielten nach Bauch und Knien, „Du darfst nit gleich verrecke, Du Spartakischte – Hund, a Bauchschüssle muschte hawe“, sagten sie.

Ich stehe vor der Mauer und friere.

Hier wurde der Knabe erschossen, der einem Rotgardisten Munition gebracht hatte.

Hier starb die Frau, die, um ihren Liebsten zu retten, seine Handgranate auf ihrer Brust verbarg.

Hier war Leviné mit dem Ruf „Es lebe die Weltrevolution!“ zusammengebrochen.

Eine kleine Tür trennt uns von dem Hof des Frauengefängnisses, in dem Gustav Landauer erschlagen wurde.

[Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland (Gesammelte Werke 4, herausgegeben von John M. Spalek, Wolfgang Frühwald). München: Carl Hanser Verlag 1978, S. 178]

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Die Monate im Gefängnis zerfließen formlos, formlos …

„Ein jeder atmete mit seinem Licht
die kleine Luft in seiner Grube aus,
vergaß sein Alter und sein Angesicht
und lebte wie ein fensterloses Haus
und starb nicht mehr, als wär er lange tot.
Sie lasen selten; alles war verdorrt,
als wäre Frost in jedes Buch gekrochen,
und wie die Kutte hing von ihren Knochen,
so hing der Sinn herab von jedem Wort.
Sie redeten einander nicht mehr an,
wenn sie sich fühlten in den schwarzen Gängen,
sie ließen ihre langen Haare hängen,
und keiner wusste, ob sein Nachbarsmann
nicht stehend starb.“

Lies Rilkes Stundenbuch, lies es in stillen Stunden, wie Fromme eine Bibel lesen. –

[Aus einem Brief an Netty Katzenstein vom 9.10.1920, Ernst Toller: Briefe aus dem Gefängnis (Gesammelte Werke 5, herausgegeben von John M. Spalek, Wolfgang Frühwald). München: Carl Hanser Verlag 1978, S. 53]

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Unser Freund Hagemeister ist gestorben.

Er erkrankte vor einer Woche, er fühlte die Nähe des Todes, er bat, man möge ihn ins Krankenhaus bringen, das Justizministerium ließ es nicht zu. Sie rissen ihn aus unserer Mitte, sie legten ihn, da in diesem Ehrengefängnis eine Krankenstube fehlt, in Isolierhaft, einen Blindgänger aus dem Krieg stellten sie ihm ans Bett, er solle daran klopfen, wenn er etwas wünsche. Der Gefängnisarzt hielt ihn für einen Simulanten.

Zwei Tage vor seinem Tod besuchte ihn seine Frau. Der todkranke Mann durfte nicht mit ihr allein sein. In München kämpften sie um sein Leben. Sie liefen zu Staatsanwälten und Behörden, überall fanden sie taube Ohren.

Nachts, in letzter Verlassenheit ist er gestorben. „Sanft entschlafen“, sagt der Staatsanwalt.

Wir dürfen Abschied nehmen von unserem toten Freund, in der kahlen Zelle sitzt er, das Gesicht des vierundvierzigjährigen Mannes ist auf die Brust gesunken, die eine Hand liegt verkrampft auf dem Klapptisch neben der leeren Granate, die andere fällt mit hilfloser Gebärde von der Stütze des Stuhls. Die Wärter sind verstört. Der Staatsanwalt fürchtet eine Meuterei. Es ist ihm unheimlich, dass wir so still sind, er läßt ins Dachgeschoss ein Maschinengewehr schaffen, das den Hof bestreichen kann.

Wir gehen auf den Hof, keiner spricht ein Wort, wir demonstrieren gegen den Mord, ohne Fahnen, ohne Reden. Einer geht hinter dem anderen. Lautlos. Stumm. Eine Stunde gehen wir so. Die Posten vorm Gefängnis sind verstärkt, die Wärter alarmiert, am Maschinengewehr lauern Soldaten. Wir beachten sie nicht. Wir gehen im Quadrat des Hofes, einer hinter dem anderen. Lautlos. Stumm.

[Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland (Gesammelte Werke 4, herausgegeben von John M. Spalek, Wolfgang Frühwald). München: Carl Hanser Verlag 1978, S. 228f]

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Die Nacht ist da.

Der spitze Hasslärm auf den Gängen ist verstummt, er mag in den Träumen der Zellenbewohner leben, die der Nachtmahr drosselt.

Gestern aber fiel der erste Schnee.

Fern sind die berauschenden Farben herbstlicher Abendhimmel. Feindlich die Dinge der Zelle, das Bett, der Tisch, die Wand.

„Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen und wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehen
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.“

[Gedicht-Zitat: Friedrich Hölderlin, Hälfte des Lebens; das ganze Gedicht bei Gedichte für alle Fälle]

[Aus einem Brief an Netty Katzenstein vom 18.12.1920, Ernst Toller: Briefe aus dem Gefängnis (Gesammelte Werke 5, herausgegeben von John M. Spalek, Wolfgang Frühwald). München: Carl Hanser Verlag 1978, S. 55f]

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Überfällt es Dich nicht plötzlich: Deine Worte gleiten ins Leere, niemand ist da, der sie aufnehmen will. Die Leere dringt in Dich, Du möchtest Deine eigne Stimme vernehmen. Da Du sie vernimmst, erschrickst Du: Dein Wort hat Leben und Klang verloren, es fällt aus Deinem Mund, tot.

Ich las heute ein Gedicht Eichendorffs. Lies auch Du es, Liebe. Es heißt: „Todeslust“.

„Bevor er in die blaue Flut gesunken,
Träumt noch der Schwan und singet todestrunken;
Die sommermüde Erde im Verblühen,
Lässt all ihr Feuer in den Trauben glühen;
Die Sonne, Funken sprühend, im Versinken,
Gibt noch einmal der Erde Glut zu trinken,
Bis, Stern auf Stern, die Trunkne zu umfangen,
Die wunderbare Nacht ist aufgegangen.“

[Aus einem Brief an Netty Katzenstein vom 10.09.1922, Ernst Toller: Briefe aus dem Gefängnis (Gesammelte Werke 5, herausgegeben von John M. Spalek, Wolfgang Frühwald). München: Carl Hanser Verlag 1978, S. 115]

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