Joachim Ringelnatz kommt als Hans Bötticher am 7.8.1883 in Wurzen bei Leipzig zur Welt. Sein Elternhaus ist künstlerisch sehr aufgeschlossen und so gehören Malen, Zeichnen, Dichten und Schreiben zu seiner Kindheit und Jugend.
Trotzdem muss auch Hans Bötticher als Dichter klein anfangen. Seine ersten Buchveröffentlichungen im Jahr 1910 sind Kinderbücher mit unterhaltsamen Versen. 1912, immer noch als Hans Bötticher, erscheint der Gedichtband Die Schnupftabaksdose. In diesem sind bereits Texte enthalten, die noch fast 100 Jahre später mit dem Namen Ringelnatz verbunden sind, wie z.B. Die Ameisen und Ein männlicher Briefmark.
Die endgültige Wandlung vom Hans Bötticher zum Joachim Ringelnatz findet erst 1919 statt. Dabei muss sich Ringelnatz seinen Ruhm mit einem Seemann namens Kuttel Daddeldu teilen. In dieser Rolle - standesgemäß im Seemannsanzug - trägt Ringelnatz Gedichte auf den Bühnen ganz Deutschlands vor.
Nafikare necesse est.
Meine längste Braut war Alwine.
Ihrer blauen Augen Gelatine
Ist schon längst zerlaufen und verwest. -
Alwine sang so schön das Lied:
"Ein Jäger aus Kurpfalz".
Wie Passatwind stand ihr der Humor.
- Sonntags morgens wurde sie bestattet
In der Heide, wo kein Bäumchen schattet,
Und auch ihre Unschuld einst verlor.
Donnerstags grub ich sie wieder aus.
Da kamen mir schon ihre Ohrlappen
So sonderbar vor.
Freitags grub ich sie dann wieder ein.
Niemand sah das in der stillen Heide. -
Montags wieder aus. Von ihrem Kleide,
Das man ihr ins Grab gegeben hatte,
Schnitt ich einer Handbreit gelber Seide,
Und die trägt mein Bruder als Krawatte. -
Gruslig wars: Bei dunklem oder feuchten
Wetter fing Alwine an zu leuchten.
Trotzdem parallel zu ihr verweilen
Wollt ich ewiglich und immerdar.
Bis sie schließlich an den weichen Teilen
Schon ganz anders und ganz flüssig war.
Aus. Ein. Aus; so grub ich viele Wochen.
Doch es hat zuletzt zu schlecht gerochen.
Und die Nase wurde blauer Saft,
Wodrin lange Fadenwürmer krochen. -
Nichts für ungut: Das war ekelhaft. -
Und zuletzt sind mir die schlüpfrigen Knochen
Ausgeglitten und in lauter Stücke zerbrochen.
Und so nahm ich Abschied von die Stücke.
Ging mit einem Schoner nach Iquique,
Ohne jemals wieder ihr Gebein
Auszugraben. Oder anzufassen.
Denn man soll die Toten schlafen lassen.
Das starke Seemansgarn macht Ringelnatz berühmt. Die Sammlung Kuttel Daddeldu und das schlüpfrige Leid, zuerst veröffentlicht 1920 und dann wesentlich erweitert 1923, trägt ebenfalls dazu bei, ihn auf die Rolle des Klamaukers festzulegen, denn Ringelnatz ist heftig-deftig:
Das war meine Erfindung:
Vor allen Dingen muß man die Tiere lebendig pressen.
Anfangs kostet es Überwindung,
Aber schließlich wird nichts so heiß gekocht wie gegessen.
Die Presse muß mindestens sechs Quadratmeter messen.
Meine Anlage war ein technisches Wunder;
Riesensäle, um die getrockneten Bestien
Übersichtlich hübsch an der Wand zu befestigen.
Denn ein geplättetes Nashorn ist keine Flunder.
Wegen der Dickhäuter und et cetera
Brauchte ich selbstverständlich elektrische Kraft. -
Doch ich speiste mit dem herausfließenden Saft
Sämtliche Waisenkinder von Zentralamerika.
Ganz abgesehen von der Naturwissenschaft.
Manches läßt sich nicht beim erstenmal schaffen.
Oftmals zappelt und zuckt noch der Hals,
Wenn der Unterkörper schon platt ist, so bei den Giraffen.
Und ich besinne mich eines noch schwereren Falls.
Um meine Sammlung zu komplettieren,
Wollte ich auch einen Menschen so präparieren.
Jene Miß Hamsy, die ich dazu erkor,
War eine ernste, wohlgebaute Mulattin,
Leichthin sommersprossig und Zollwächters Gattin.
Und der setzte ich Arrak mit Blumenkohl vor,
Sagte, das sei Barbarossas Lieblingsgericht,
Las ihr zwei Novellen von Freiherrn v. Schlicht.
Bis sie langsam das Bewußtsein verlor.
Als ich sie dann im Dunkeln entkleidet hatte,
Legte ich sie behutsam tastend auf die untere Platte,
Kurbelte an. Doch sie erwachte dabei.
Aber ich suchte sie taktvoll bescheiden zu trösten:
Wieviel schlimmer es wäre, lebendig zu rösten,
Und daß die Presse nicht zu umgehen sei.
Nichts stimmt trauriger als ein menschlicher Todesschrei.
Aber was bedeutet solch kurzer Ton
Gegen die furchtbaren Greuel der Vivisektion!
Und wie Miß Hamsy dann an der Wand die vierte
Halle für Säugetiere und Eidechsen zierte,
Hat ihr Anblick jeden Besucher gebannt.
Die Kritiken hörten nicht auf sie zu loben.
Bis sich schließlich die Popolaca erhoben.
Diese Indianer haben das ganze Museum niedergebrannt.
Alles haben mir diese Schweine gestohlen.
Aus Miß Hamsy schnitten sie Mokassinsohlen.
Was ein Barbar ist, hat weder Kultur noch Geschmack.
Aber einen von ihnen erwischte ich später,
Kochte ihn lebend mit Kienharz und Wasserstoff-Äther.
Und den Kerl verbrauche ich heute als Siegellack.
Es sollte Erich Kästner vorbehalten sein, als Erster in einer Besprechung eines Ringelnatz-Auftritts zu offenbaren, dass in diesem Komödianten mehr steckt:
Eines nur enttäuscht an ihm: Das ist die Art seiner Wirkung im Publikum. ... Es ist so traurig, dass sich die meisten gewöhnt haben, über Ringelnatz als einen Hanswurst und Suppenkasper zu lachen. Merken denn so wenige, dass man keine Kabarettnummer, sondern einen Dichter vor sich hat?
(Vortragsabend Joachim Ringelnatz, in: Neue Leipziger Zeitung 20.10.1924)
So ist die Verwunderung bei den Rezensenten seiner drei zwischen 1927 und 1929 erschienenen Gedichtbände Reisebriefe eines Artisten, Allerdings und Flugzeuggedanken immer noch groß, dass Ringelnatz mehr kann als ein Publikum stets zum Lachen zu bringen - was schwer genug ist.
Der Titel Reisebriefe eines Artisten (1927) hält, was er verspricht. Man lernt den zum Reisen gezwungenen Artisten Ringelnatz näher kennen. Da sind die finanziellen Sorgen der Frau in München, der neidische Blick auf jene, die festen Boden unter den Füßen haben und zuguterschlechterletzt macht sich Weltschmerz breit.
Die Stadt macht einen ganz barock.
Bemerkenswertes kennst du ja aus Bildern
Und Büchern. Warum das noch schildern.
Und sozusagen scharrt mein Reisestock.
Ich habe Angst, hier zu verwildern.
August der Starke und Paris
Sind weit von diesem Tumerspieß,
Auch Walter von der Vogelwies.
Was sind wir nun an Gas und Miete schuldig?
Antworte nicht. Mit Geld steht's diesmal schlecht.
Vielleicht deshalb bin ich so ungeduldig
Und gegen Dresden billig ungerecht.
Doch hier - das tolle Welt- und Großstadtleben
Zermürbt mich ganz und gar.
Übrigens: Würzen liegt nicht weit daneben,
Die Stadt, wo meine Mutter mich gebar.
Fort! Tausend Dank den Dresdener Verehrern!
Doch fort von Dresden! Meine Sehnsucht weht
Nach einer Stadt, die nur aus Oberlehrern
Und aus Gemütlichkeit besteht.
Vom Speisewagen
Durchs Land getragen,
Siehst du Dörfer, Felder, Katz und Küh.
Angenommen, daß dir das Menü
Nichts kann sagen.
Irgendwo: Zwei Barfußmädchen winken.
Wissen selber nicht, warum sie`s tun,
Lassen ihre arbeitsharten Hände
Für Momente ruhn.
Wissen nicht, daß deine Hände sinken,
Winken,
Grüßen
In den ganzen langen Zug hinein,
Ahnen nicht, daß du die Scholle sein
Möchtest unter ihren schmutz´gen Füßen.
Angelangt, ergibst du mittelgroß
Dich der Höflichkeit, dem Stande und dem Gelde.
Nachts im Bette träumst du hoffnungslos
Von den beiden Mädchen auf dem Felde.
Ich lasse das Schicksal los.
Es wiegt tausend Milliarden Pfund;
Die zwinge ich doch nicht, ich armer Hund.
Wie’s rutscht, wie’s fällt,
Wie’s trifft - so warte ich hier.-
Wer weiß denn vorher, wie ein zerknittertes Zeitungspapier
Weggeworfen im Wind sich verhält?
Wenn ich noch dem oder jener (zum Beispiel dir)
Eine Freude bereite,
Was will es dann heißen: „Er starb im Dreck“? –
Ich werfe das Schicksal nicht weg.
Es prellt mich beiseite.
Ich poche darauf: Ich war manchmal gut.
Weil ich sekundenlang redlich gewesen bin. –
Ich öffne die Hände. Nun saust das Schicksal dahin.
Ach, mir ist ungeheuer bange zumut.
In Allerdings (1928) kommt eine weitere Ringelnatzsche Seite hinzu. Wenn er auch am liebsten gar nichts mit der Politik zu tun haben will, so muss er doch als reisender Dichter erkennen, dass sich der Ton in Deutschland verschärft. Da wird selbst ein friedliebender Mensch explosiv.
Wenn Parteien sich und Massen
Sichtbar und geräuschvoll hassen
Klingt das mir wie Meeresrauschen.
Und dann mag ich henkelltrocken
Still auf einer Insel hocken,
Die mich zusehn läßt und lauschen.
Nicht, daß ich dann etwas schürfe
Oder was dazwischen würfe
Oder schlichten wollte, nein,
Nein, ich weiß, das muß so sein.
Und ich dehne mich und schlürfe
Eingefangnen Sonnenschein.
Wechselnd laut und wieder leise
Rauscht das Meer in weitem Kreise
Mir vertraute Melodie.
Wo blind oder falsch gestempelt
Mißklang sich an Mißklang rempelt,
Windelt neue Harmonie.
Und dann schwimmt - fast ist es schade -
Noch ein Mensch an mein Gestade,
Sucht an meiner Bulle halt.
Aus ist die Robinsonade,
Denn nach Insulanersitte
Sag ich unwillkürlich: "Bitte!"
Und ein zweiter Pfropfen knallt.
Und wir trinken. Es gesellen
Andre sich dazu. Die Wellen
Glätten sich. Der Haß zerstiebt.
Bis zuletzt in süßer Ruhe
Niemand noch was in die Schuhe
Andrer schiebt,
Und sich alles gegenseitig
Eingehenkellt ganz unstreitig
Duldet, gern hat oder liebt.
Köpfe und Rümpfe trennen sich
Überall im Blut.
Überall bekennen sich
Leute zum Henkersmut.
Überall wird die Rache satt.
Überall tut sich ein Recht,
Birgt sich, wenn es Ängste hat,
Hinter einem beschränkten Knecht.
Ferne Unwetter grollen.
Es gruselt dumpf:
Was werden die Köpfe wollen,
Wenn sie wieder hupfen auf ihren Rumpf?
Wenn die Menschen dumpf sich nicht getraun,
Wenn sie feig und heuchlerisch sich fügen
Und ihr Glück auf ihre Schlauheit baun,
Redliches bedrücken und betrügen.
Wenn sie schleichen, flüstern und sich ducken,
Andrerseits aus Würde sich genieren, --
O dann müßte etwas explodieren.
Und ein Riese müßte sich erheben
Über sie und sie nicht etwa töten,
Sondern saftig, kräftig sie bespucken,
Um sie für ihr weitres Leben
Als verschleimte, fette Warzenkröten
In ein Glashaus einzusperrn.
Und ich würde durch die Scheiben gucken
Und sie grüßen: "Hochverehrte Herrn!"
Flugzeuggedanken (1929) enthält schließlich Gedichte aus einer entfernten Perspektive, die aber doch ganz nah an den Dingen der Welt dran ist. Philosophie nennt man das wohl.
Dort unten ist die Erde mein
Mit Bauten und Feldern des Fleißes.
Wenn ich einmal werde nicht mehr sein,
Dann graben sie mich dort unten hinein,
Ich weiß es.
Dort unten ist viel Mühe und Not
Und wenig wahre Liebe. –
Nun stelle ich mir sekundenlang
Vor, daß ich oben hier bliebe,
Ewig, und lebte und wäre doch tot --
Oh, macht mich der Gedanke bang.
Mein Herz und mein Gewissen schlägt
Lauter als der Propeller.
Du Flugzeug, das so schnell mich trägt,
Flieg schneller!
Was ist nun jetzt?
Wo sind auf einmal die Stangen,
An denen die wünschende Nase sich wetzt?
Was soll er nun anfangen?
Er schnuppert neugierig und scheu.
Wie ist das alles vor ihm so weit
Und so wunderschön neu!
Aber wie schrecklich die Menschheit schreit!
Und er nähert sich geduckt
Einem fremden Gegenstande. –
Plötzlich wälzt er sich im Sande,
Weil ihn etwas juckt.
Kippt ein Tisch. Genau wie Baum.
Aber eine Peitsche knallt.
Und der Bär flieht seitwärts, macht dann halt.
Und der Raum um ihn ist schlimmer Traum.
Läßt der Bär sich locken. Doch er brüllt.
Läßt sich treiben, läßt sich fangen.
Angsterfüllt und haßerfüllt
Wünscht er sich nach seines Käfigs Stangen.
Es gehen Menschen vor mir hin
Und gehen mir vorbei, und keiner
Davon ist so, wie ich es bin.
Es blickt ein jedes so nach seiner
Gegebenen Art in seine Welt.
Wer hat die Menschen so entstellt??
Ich sehe sie getrieben treiben.
Warum sie wohl nie stehenbleiben,
Zu sehen, was nach ihnen sieht?
Warum der Mensch vorm Menschen flieht?
Und eine weiße Weite Schnee
Verdreckt sich unter ihren Füßen.
So viele Menschen. Mir ist weh:
Keinen von ihnen darf ich grüßen.
Für den nächsten Gedichtband lässt sich Ringelnatz drei Jahre Zeit. Folgerichtig erscheint 1932 Gedichte dreier Jahre. Der Dichter nähert sich den 50, es mischen sich Gedanken über Tod und Vergänglichkeit in seine Texte. Wie einer Kritik des Jahres 1930 zu entnehmen ist, hat auch der Kabarettist die wilden Jahre des Kuttel Daddeldu hinter sich gelassen und beschwört selbst vor einem frohgestimmten Publikum die leiseren Töne.
Habt ihr einen Kummer in der Brust
Anfang August,
Seht euch einmal bewußt
An, was wir als Kinder übersahn.
Da schickt der Löwenzahn
Seinen Samen fort in die Luft.
Der ist so leicht wie Duft
Und sinnreich rund umgeben
Von Faserstrahlen, zart wie Spinneweben.
Und er reist hoch über euer Dach,
Von Winden, schon vom Hauch gepustet.
Wenn einer von euch hustet,
Wirkt das auf ihn wie Krach,
Und er entweicht.
Luftglücklich leicht.
Wird sich sanft wo in Erde betten.
Und im Nächstjahr stehn
Dort die fetten, goldigen Rosetten,
Kuhblumen, die wir als Kind übersehn.
Zartheit und Freimut lenken
Wieder später deren Samen Fahrt.
Flöge doch unser aller Zukunftsdenken
So frei aus und so zart.
(September 1930)
Diese Augen haben um mich geweint.
Denk ich daran, wird mir weh.
Wie die mir scheinen und spiegeln, so scheint
Keine Sonne, so spiegelt kein See.
Und rührend dankten und jubelten sie
Für das kleinste gute Wort.
Diese Augen belogen mich nie.
Nun bin ich weit von ihnen fort,
Getrennt für Zeit voll Ungeduld.
Da träumt's in mir aus Leid und Schuld:
Daß sie noch einmal weinen
Werden über meinen
Augen, wenn ich tot bin.
Wenn wir sterben müssen,
Unsere Seele sich den Behörden entzieht,
Werden sich Liebende küssen;
Weil das Lebende trumpft.
Aber wenn nichts geschieht,
Bleibt das Leben nicht einmal stehn, sondern schrumpft.
Was heute mir ins Ohr klingt,
Ist nur, was Klage vorbringt.
Und was ich mit Augen seh
An schweigender Not, das tut weh.
Aller Frohsinn in uns ist verreist.
Und nichts geschieht. - Und der Zeiger kreist.
Der letzte Gedichtband, der noch ein Gutteil neues Material enthält, ist 1934 Gedichte, Gedichte einstmals und heute. Die Ringelnatzsche Lebensreise nähert sich dem Ende. Auftrittsverbote durch die NS-Regierung, eine aufbrechende Tuberkolose; nein, es sieht nicht gut aus für Ringelnatz. Das spiegelt sich auch in seinen Gedichten wieder, die teilweise etwas Jenseitiges, über dem Leben Stehendes haben.
Gar nicht versöhnlich genug
Kannst du sein.
Auch der größte Betrug
Erntet so klein.
Ein Rotkehlchen, von Kanonen erschossen:
Hat sein Blut vergossen.
Kanonen haben, völlig unbewußt,
Eine rauhe Kehle und keine rote Brust.
Mich hat unter vielen Dingen
Beispiesweise jede Nacht ans Herz gepackt,
Da die Sterne unvernebelt, nackt
Durch den Himmel gingen.
Und keins von diesen schönen Mädchen weiß -
Und keins von diesen schönen Mädchen kann
Die Spanne seiner Flügelmacht ermessen.
Ein älterer Herr hat neben ihr gesessen,
Sie einmal angeschaut, - ein älterer Mann.
Keins dieser jungen Mädchen weiß,
Wie alte, gute Augen auf sie blicken,
Sie hören Pulse, nicht die Uhren ticken.
Ein Trainsoldat, ganz jung, - den liebt sie heiß.
Wie vieles Wünschen und Verlangen
Wird unerfüllt unmerklich weggespült.
Alt ist geworden, wer das Leben fühlt. –
Nun ja: Der ältere Herr ist dann gegangen.
Und immer neu erlebt und neu bedichtet,
Ist das wohl recht und richtig eingerichtet?
Der Herr hat höflich, still zum Hut gefaßt.
Der Herr hat den Soldaten nie gehaßt.
Joachim Ringelnatz stirbt am 17.11.1934 in Berlin. Erst nach seinem Tod veröffentlichte seine Frau Leonharda, genannt Muschelkalk, in einem Privatdruck einen ganz persönlichen Scherz, den sich der sonst so unpolitische Ringelnatz mit den neuen Machthabern erlaubt hat.
Jauchzend steigt die Olympiade,
Olympiade unsrer Zeit!
Alles wartet der Parade.
Chöre harren klangbereit.
In Begeisterung sich heben
Muß beim Anmarsch solcher Macht
Rechts und Links das Volk. Es beben
Ihre Herzen welterwacht.
Nur mit Geist kann Leib gedeihen.
Geist erstarkt an Mut und Kraft.
Einen beide sich, dann weihen
Leben sie, das Leben schafft.
Nicht der Zorn soll Muskeln schwellen,
Aber jugendheißes Spiel.
Tretet an, ihr Kampfgesellen!
Zieht mit Gott zum edlen Ziel.
Diesen Text schickte Ringelnatz unter dem Namen Erwin Christian Stolze zum Wettbewerb für ein Olympisches Weihelied ein. Doch die Hymne gilt nicht Olympia, sondern ist der Versuch, den Namen eines geächteten Dichters einzuschleusen. Der Text ist ein Akrostichon, der jeweils erste Buchstabe der Zeilen des Gedichtes ergibt den Namen Joachim Ringelnatz.
Damit nicht genug. Auch der Deckname hat es in sich. Als Anagramm führt er zu "Wer ein Nazistrolch ist".
Ringelnatz hatte erkannt, dass es kein Sichheraushalten mehr geben konnte, nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren. Dies zeigt sich in einem nachgelassenen titellosen Gedicht:
Wir sind, sagen die Lauen,
Wir sind nicht objektiv.
Wir sollten doch tiefer schauen,
Doch schauen, ob nicht tief
Am Nazitum was dran sei,
Ob Hitler nicht doch ein Mann sei.
Wir haben alles erwogen,
Wir wußten alles zuvor,
Mal hat man uns nicht betrogen,
Man machte uns nicht vor,
Daß rechts links und gerade schief sei
Und daß alles relativ sei.
Unrelative Lumpen hausen bei uns zu Haus,
Und hauen das Land in Klumpen.
Ist relativ der Graus?
Da sollen wir objektiv sein,
Wir sollen so naiv sein!
Wir kennen die einfache Wahrheit,
Wir sehn durch ein scharfes Glas.
Und unsere Lehre ist Klarheit,
Und unsere Klarheit ist Haß.
Der Haß, der groß und weitsichtig ist,
Der schaffende Haß, der wichtig ist.
Sein früher Tod hat Ringelnatz die Chance genommen, zu zeigen, was er als Dichter noch zu leisten imstande gewesen wäre. So blieb er leider nur als "komischer Verseschmied" in Erinnerung. Doch es lohnt sich allemal, auch die andere Seite dieses Dichters kennenzulernen.
Die Ringelnatz-Stiftung füllt das künstlerische Werk des Dichters und Malers mit Leben u.a. durch prominent besetzte Veranstaltungen. Ringelnatz.net bietet als besondere Spezialität ein kostenloses Hörbuch mit Ringelnatztexten. Die Unversitätsbibliothek Bielefeld hat ein Exemplar von 103 Gedichte eingescannt und ins Netz gestellt. Beim Projekt Gutenberg schließlich findet man eine umfangreiche Textsammlung mit Gedichtbänden, Kuttel Daddeldu und Erzählungen.
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