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Friedrich Hölderlin

Friedrich Hölderlin

    Gemäldeausschnitt von Franz Karl Hiemer 1792

An sich selbst

Lern im Leben die Kunst, im Kunstwerk lerne das Leben,
   Siehst du das eine recht, siehst du das andere auch.

(entstanden wohl 1799; Erstdruck 1926)

Wohl wenige Dichter haben diesen Anspruch so sehr
umgesetzt wie Hölderlin: Sein Werk und dessen Genese bildet eine wechselwirkende, untrennliche Einheit mit seiner Biographie. In der bezwingenden, symphonischen Klang- und Ausdrucksfülle seiner lyrischen Sprache ist er eine der lautersten Verkörperungen eines Dichters überhaupt. Um die ihn prägenden Einflüsse und Themen vorzustellen, ist das folgende Gedicht, bezeichnenderweise an einen Freund gerichtet, geeignet:

Griechenland

Hätt' ich dich im Schatten der Platanen,
Wo durch Blumen der Cephissus rann,
Wo die Jünglinge sich Ruhm ersannen,
Wo die Herzen Sokrates gewann,
Wo Aspasia durch Myrten wallte,
Wo der brüderlichen Freude Ruf
Aus der lärmenden Agora schallte,
Wo mein Plato Paradiese schuf,

Wo den Frühling Festgesänge würzten,
Wo die Ströme der Begeisterung
Von Minervens heilgem Berge stürzten -
Der Beschützerin zur Huldigung -
Wo in tausend süßen Dichterstunden,
Wie ein Göttertraum, das Alter schwand,
Hätt' ich da, Geliebter! dich gefunden,
Wie vor Jahren dieses Herz dich fand,

Ach! wie anders hätt' ich dich umschlungen! -
Marathons Heroen sängst du mir,
Und die schönste der Begeisterungen
Lächelte vom trunknen Auge dir,
Deine Brust verjüngten Siegsgefühle,
Deinen Geist, vom Lorbeerzweig umspielt,
Drückte nicht des Lebens stumpfe Schwüle,
Die so karg der Hauch der Freude kühlt.

Ist der Stern der Liebe dir verschwunden?
Und der Jugend holdes Rosenlicht?
Ach! umtanzt von Hellas goldnen Stunden,
Fühltest du die Flucht der Jahre nicht,
Ewig, wie der Vesta Flamme, glühte
Mut und Liebe dort in jeder Brust,
Wie die Frucht der Hesperiden, blühte
Ewig dort der Jugend stolze Lust.

Ach! es hätt' in jenen bessern Tagen
Nicht umsonst so brüderlich und groß
Für das Volk dein liebend Herz geschlagen,
Dem so gern der Freude Zähre floß! -
Harre nun! sie kömmt gewiß, die Stunde,
Die das Göttliche vom Kerker trennt -
Stirb! du suchst auf diesem Erdenrunde,
Edler Geist! umsonst dein Element.

Attika, die Heldin, ist gefallen;
Wo die alten Göttersöhne ruhn,
Im Ruin der schönen Marmorhallen
Steht der Kranich einsam trauernd nun;
Lächelnd kehrt der holde Frühling nieder,
Doch er findet seine Brüder nie
In Ilissus heilgem Tale wieder -
Unter Schutt und Dornen schlummern sie.

Mich verlangt ins ferne Land hinüber
Nach Alcäus und Anakreon,
Und ich schlief' im engen Hause lieber,
Bei den Heiligen in Marathon;
Ach! es sei die letzte meiner Tränen,
Die dem lieben Griechenlande rann,
Laßt, o Parzen, laßt die Schere tönen,
Denn mein Herz gehört den Toten an!

(entstanden 1793/4; Erstdruck 1795)

Hölderlin schuf damit kein originelles Sujet, erschöpfte sich aber mitnichten in Rückwärtsgewandtheit. Die Motive und Formen der griechischen Antike waren in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts vielfältig für die deutsche Literatur urbar gemacht worden, die mythologisch-historischen Gestalten und Geschichten allgemein präsent. Doch erlebte und formulierte niemand diese Verwurzelung authentischer und umfassender; speziell die pantheistische Religiösität, das Gewahren von Gottheiten in Sonne, Äther, Mond, Flüssen, Bergen und Bäumen war für ihn kein poetischer Symbolreigen, sondern lebendige Erfahrung (wie man unter Religiöse GedichteReligiöse Gedichte in Da ich ein Knabe war... nachlesen kann). Damit ist die Natur als weiteres Fundament von Hölderlins Poesie angesprochen, wie es hier offenbar wird:

Die Muße

Sorglos schlummert die Brust und es ruhn die strengen Gedanken.
Auf die Wiese geh' ich hinaus, wo das Gras aus der Wurzel
Frisch, wie die Quelle, mir keimt, wo die liebliche Lippe der Blume
Mir sich öffnet und stumm mit süßem Othem mich anhaucht,
Und an tausend Zweigen des Hains, wie an brennenden Kerzen
Mir das Flämmchen des Lebens glänzt, die rötliche Blüte,
Wo im sonnigen Quell die zufriednen Fische sich regen,
Wo die Schwalbe das Nest mit den törigen Jungen umflattert,
Und die Schmetterlinge sich freun und die Bienen, da wandl' ich
Mitten in ihrer Lust; ich steh im friedlichen Felde
Wie ein liebender Ulmbaum da, und wie Reben und Trauben
Schlingen sich rund um mich die süßen Spiele des Lebens.

Oder schau ich hinauf zum Berge, der mit Gewölken
Sich die Scheitel umkränzt und die düstern Locken im Winde
Schüttelt, und wenn er mich trägt auf seiner kräftigen Schulter,
Wenn die leichtere Luft mir alle Sinne bezaubert
Und das unendliche Tal, wie eine farbige Wolke,
Unter mir liegt, da werd' ich zum Adler, und ledig des Bodens
Wechselt mein Leben im All der Natur wie Nomaden den Wohnort.
Und nun führt mich der Pfad zurück ins Leben der Menschen,
Fernher dämmert die Stadt, wie eine eherne Rüstung
Gegen die Macht des Gewittergotts und der Menschen geschmiedet,
Majestätisch herauf, und ringsum ruhen die Dörfchen;
Und die Dächer umhüllt, vom Abendlichte gerötet,
Freundlich der häusliche Rauch; es ruhn die sorglich mzäunten
Gärten, es schlummert der Pflug auf den gesonderten Feldern.

Aber ins Mondlicht steigen herauf die zerbrochenen Säulen
Und die Tempeltore, die einst der Furchtbare traf, der geheime
Geist der Unruh, der in der Brust der Erd' und der Menschen
Zürnet und gärt, der Unbezwungne, der alte Erobrer,
Der die Städte, wie Lämmer, zerreißt, der einst den Olympus
Stürmte, der in den Bergen sich regt, und Flammen herauswirft,
Der die Wälder entwurzelt und durch den Ozean hinfahrt
Und die Schiffe zerschlägt und doch in der ewigen Ordnung
Niemals irre dich macht, auf der Tafel deiner Gesetze
Keine Silbe verwischt, der auch dein Sohn, o Natur, ist,
Mit dem Geiste der Ruh' aus Einem Schoße geboren. -

Hab' ich zu Hause dann, wo die Bäume das Fenster umsäuseln
Und die Luft mit dem Lichte mir spielt, von menschlichem Leben
Ein erzählendes Blatt zu gutem Ende gelesen:
Leben! Leben der Welt! du liegst wie ein heiliger Wald da,
Sprech ich dann, und es nehme die Axt, wer will, dich zu ebnen,
Glücklich wohn' ich in dir.

(Fragment, entstanden 1797; Erstdruck 1922)

Doch weder sentimentale Griechenschwärmerei noch behagliche Naturidyllik waren die Sache Hölderlins, wie der soeben in der vorletzten Strophe eingeführte "Geist der Unruh" zeigt. Was es mit diesem auf sich hat, verbunden mit dem geschichtsphilosophischen Konzept der drei Zeitalter ebenso wie mit Hölderlins persönlichem Los, spricht er hier aus:

Das Schicksal

Die das Schicksal fußfällig verehren sind weise.
Aischylos

Als von des Friedens heil'gen Talen,
Wo sich die Liebe Kränze wand,
Hinüber zu den Göttermahlen
Des goldnen Alters Zauber schwand,
Als nun des Schicksals eh'rne Rechte,
Die große Meisterin, die Not,
Dem Übermächtigen Geschlechte
Den langen, bittern Kampf gebot;

Da sprang er aus der Mutter Wiege,
Da fand er sie, die schöne Spur
Zu seiner Tugend schwerem Siege,
Der Sohn der heiligen Natur;
Der hohen Geister höchste Gabe,
Der Tugend Löwenkraft begann
Im Siege, den ein Götterknabe
Den Ungeheuern abgewann.

Es kann die Lust der goldnen Ernte
Im Sonnenbrande nur gedeihn;
Und nur in seinem Blute lernte
Der Kämpfer, frei und stolz zu sein;
Triumph! die Paradiese schwanden,
Wie Flammen aus der Wolke Schoß,
Wie Sonnen aus dem Chaos, wanden
Aus Stürmen sich Heroen los.

Der Not ist jede Lust entsprossen,
Und unter Schmerzen nur gedeiht
Das Liebste, was mein Herz genossen,
Der holde Reiz der Menschlichkeit;
So stieg, in tiefer Flut erzogen,
Wohin kein sterblich Auge sah,
Stillächelnd aus den schwarzen Wogen
In stolzer Blüte Cypria.

Durch Not vereiniget, beschwuren
Vom Jugendtraume süß berauscht
Den Todesbund die Dioskuren,
Und Schwert und Lanze ward getauscht;
In ihres Herzens Jubel eilten
Sie, wie ein Adlerpaar, zum Streit,
Wie Löwen ihre Beute, teilten
Die Liebenden Unsterblichkeit. -

Die Klagen lehrt die Not verachten,
Beschämt und ruhmlos läßt sie nicht
Die Kraft der Jünglinge verschmachten,
Gibt Mut der Brust, dem Geiste Licht;
Der Greise Faust verjüngt sie wieder;
Sie kömmt, wie Gottes Blitz, heran,
Und trümmert Felsenberge nieder,
Und wallt auf Riesen ihre Bahn.

Mit ihrem heil'gen Wetterschlage,
Mit Unerbittlichkeit vollbringt
Die Not an Einem großen Tage,
Was kaum Jahrhunderten gelingt;
Und wenn in ihren Ungewittern
Selbst ein Elysium vergeht,
Und Welten ihrem Donner zittern -
Was groß und göttlich ist, besteht. -

O du, Gespielin der Kolossen,
O weise, zürnende Natur,
Was je ein Riesenherz beschlossen,
Es keimt' in deiner Schule nur.
Wohl ist Arkadien entflohen;
Des Lebens beßre Frucht gedeiht
Durch sie, die Mutter der Heroen,
Die eherne Notwendigkeit. -

Für meines Lebens goldnen Morgen
Sei Dank, o Pepromene, dir!
Ein Saitenspiel und süße Sorgen
Und Träum' und Tränen gabst du mir;
Die Flammen und die Stürme schonten
Mein jugendlich Elysium,
Und Ruh' und stille Liebe thronten
In meines Herzens Heiligtum.

Es reife von des Mittags Flamme,
Es reife nun vom Kampf und Schmerz
Die Blüt' am grenzenlosen Stamme,
Wie Sprosse Gottes, dieses Herz!
Beflügelt Voll dem Sturm, erschwinge
Mein Geist des Lebens höchste Lust,
Der Tugend Siegeslust verjünge
Bei kargem Glücke mir die Brust!

Im heiligsten der Stürme falle
Zusammen meine Kerkerwand,
Und herrlicher und freier walle
Mein Geist ins unbekannte Land!
Hier blutet oft der Adler Schwinge;
Auch drüben warte Kampf und Schmerz!
Bis an der Sonnen letzte ringe,
Genährt vom Siege, dieses Herz.

(entstanden 1793/4, Erstdruck 1794)

In mythologischen Bildern entwickelt Hölderlin in diesem Gedicht ein dreistufig-dialektisches Modell der Menschheitsgeschichte. Das Goldene Zeitalter der Urzeit, hier auch "Elysium" und "Arkadien" oder in der Bibel Garten Eden und Paradies geheißen, wurde abgelöst von der Ära der Not, wie das Schicksal hier durchgängig bezeichnet ist. Zwar geht damit der Verlust von Frieden und sorgloser Geborgenheit in der Natur einher, doch fungiert die "eherne Notwendigkeit" als "Mutter der Heroen". Besagter Geist der Unruh treibt die Menschheit an, sich zu vervollkommnen, ein neues Goldenes Zeitalter auf höherer Ebene zu erkämpfen. Auch philosophisch verfolgte Hölderlin dieses Geschichtsmodell, entwarf mit seinen Studienfreunden Schelling und Hegel "Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus". Dieses wurde Ausgangspunkt und jenes Geschichtsbild ein Kerngedanke der vor allem von Georg Friedrich Wilhelm Hegel wesentlich geprägten philosophischen Schule, deren immense Wirksamkeit sich später nicht zuletzt im Marxismus niederschlug.
Doch weder mythologisch und religiös noch philosophisch ist dieser Hölderlinische Grundglaube einzugrenzen, wie die letzten drei Strophen von "Das Schicksal" zeigen. Von allgemeinen Betrachtungen wechselt er in die Ich-Form und spricht die Schicksalsgöttin Pepromene direkt an, setzt seine eigene Jugend parallel mit dem Goldenen Zeitalter, des "Mittags Flamme" seines erwachsenens Lebens dem heroischen Ringen um "der Sonnen letzte", also das erneuerte Elysium. Denn dieses sah er durch die Ideale der französischen Revolution für West- und Mitteleuropa heraufdämmern und setzte sich dafür mit seiner ganzen künstlerischen Potenz ein. Unverhohlen gesteht er dies in seinem Epigramm Advocatus Diaboli (hier unter Politische GedichtePolitische Gedichte).

Daß Hölderlin trotz seiner Einsamkeit sein hellenisches Ideal durchhielt, ohne Kompromiß und ohne böse oder stumpfe Verzweiflung, mutig und selig trotz der Verbannung aus seiner inneren Heimat, glühend inmitten des Frostes und der Öde, königlich und heilig trotz der deutschen Hauslehrermisere: das macht ihn zu einem unserer heroischen Menschen.

Mit solch hehren Worten bewundert der Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf (1880-1931) Hölderlins umfassende Ansprüche an die Welt und sich selbst, denen sein tragischer Lebenslauf gegenüber steht. Zu seinen bekanntesten und ergreifendsten Gedichten zählen allerdings weniger die idealisch-erhabenen als die seine Einsamkeit und Verlorenheit ausdrückenden, so Hälfte des Lebens (in HerbstgedichteHerbstgedichte) und

Abendphantasie

Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sitzt
   Der Pflüger, dem Genügsamen raucht sein Herd.
      Gastfreundlich tönt dem Wanderer im
         Friedlichen Dorfe die Abendglocke.

Wohl kehren itzt die Schiffer zum Hafen auch,
   In fernen Städten, fröhlich verrauscht des Markts
      Geschäftger Lärm; in stiller Laube
         Glänzt das gesellige Mahl den Freunden.

Wohin denn ich? Es leben die Sterblichen
   Von Lohn und Arbeit; wechselnd in Müh' und Ruh
      Ist alles freudig; warum schläft denn
         Nimmer nur mir in der Brust der Stachel?

Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf;
   Unzählig blühn die Rosen und ruhig scheint
      Die goldne Welt; o dorthin nimmt mich,
         Purpurne Wolken! und möge droben

In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb' und Leid! -
   Doch, wie verscheucht von töriger Bitte, flieht
      Der Zauber; dunkel wirds und einsam
         Unter dem Himmel, wie immer, bin ich -

Komm du nun, sanfter Schlummer! zu viel begehrt
   Das Herz; doch endlich, Jugend! verglühst du ja,
      Du ruhelose, träumerische!
         Friedlich und heiter ist dann das Alter.

(entstanden und gedruckt 1799)

Das Faszinosum Hölderlin, das im 20. Jahrhundert mit breiter Rezeption und Wirkung einsetzte, ist gleichfalls einer Verbindung seiner Sprach- und Gedankenwelten mit der Biographie zu verdanken, wobei die Liebe zu seiner Diotima und der Wahnsinn hervorstechen, zu dem ihm "friedlich und heiter ... das Alter" gediehen ist.
Das Licht der Welt erblickte er am 20.3.1770 in Lauffen am Neckar als Sohn einer Pastorentochter und eines Klosterpflegers, der nur zwei weitere Jahre lebte. 1774 zog die Mutter zur Heirat eines Weinhändlers und Bürgermeisters nach Nürtingen, der 1779 starb. Da die Mutter ihren erstgeborenen Sohn zum Priester ausersehen hatte, nahm er 1788 das Studium der evangelischen Theologie am Tübinger Stift auf. In den Jahren bis zu seinem Abschlussexamen 1793 begann er mit der Publikation von Gedichten und knüpfte Kontakte zu den bedeutendsten Literaten und Philosophen seiner Zeit. Da er sich zum Dichter und nicht Pastor berufen fühlte, trat er noch im selben Jahr auf Empfehlung seines verehrten Vorbilds Friedrich von SchllerSchiller eine Hauslehrerstelle an - der Beginn einer langen Reihe von gescheiterten Versuchen, sich mit solchen Anstellungen, akademischen und Zeitschriftenprojekten eine Existenz zu sichern. Seine Literatur passte in keine der dominierenden Richtungen, auch bei Johann Wolfgang von GoetheGoethe und den Romantikern fiel er durch.
1796 nahm er eine Lehrerstelle für eines der vier Kinder des Frankfurter Bankiers Gontard an. In dessen Gattin Susette (geboren 1769 in Hamburg), die er nach einer Gestalt aus einem Platon-Dialog Diotima nannte, fand er die große Liebe seines Lebens. Als die Beziehung 1798 ruchbar wurde, musste er das Haus verlassen, bis 1800 gab es noch heimliche Treffen und Briefwechsel. Danach verschlugen seine kurzlebigen Anstellungen Hölderlin bis in die Schweiz und nach Bordeaux, von wo er 1802 in zerrüttetem Zustand nach Nürtingen heimkehrte und vom Tod der schon länger gesundheitlich angeschlagenen Susette erfuhr.
Drei lyrische Texte sollen beispielhaft für Diotimas Strahlkraft stehen, zunächst in ihrer Wirkung auf den Liebenden, dann in einem die Liebe nicht als privates Phänomen behandelnden, sondern mit Mythos und idealisch-politischem Auftrag verknüpfenden Bruchstück, und schließlich in einem Kurzgedicht, welches das Bewusstsein Hölderlins von Susettes Gefährdung anspricht.

Diotima

Leuchtest du wie vormals nieder,
Goldner Tag! und sprossen mir
Des Gesanges Blumen wieder
Lebenatmend auf zu dir?
Wie so anders ists geworden!
Manches, was ich trauernd mied,
Stimmt in freundlichen Akkorden
Nun in meiner Freude Lied,
Und mit jedem Stundenschlage
Werd ich wunderbar gemahnt
An der Kindheit stille Tage,
Seit ich Sie, die Eine, fand.

Diotima! edles Leben!
Schwester, heilig mir verwandt!
Eh ich dir die Hand gegeben,
Hab ich ferne dich gekannt.
Damals schon, da ich in Träumen,
Mir entlockt vom heitern Tag,
Unter meines Gartens Bäumen,
Ein zufriedner Knabe, lag,
Da in leiser Lust und Schöne
Meiner Seele Mai begann,
Säuselte, wie Zephirstöne,
Göttliche! dein Geist mich an.

Ach! und da, wie eine Sage,
Jeder frohe Gott mir schwand,
Da ich vor des Himmels Tage
Darbend, wie ein Blinder, stand,
Da die Last der Zeit mich beugte,
Und mein Leben, kalt und bleich,
Sehnend schon hinab sich neigte
In der Toten stummes Reich:
Wünscht ich öfters noch, dem blinden
Wanderer, dies Eine mir,
Meines Herzens Bild zu finden
Bei den Schatten oder hier.

Nun! ich habe dich gefunden!
Schöner, als ich ahndend sah,
Hoffend in den Feierstunden,
Holde Muse! bist du da;
Von den Himmlischen dort oben,
Wo hinauf die Freude flieht,
Wo, des Alterns überhoben,
Immerheitre Schöne blüht,
Scheinst du mir herabgestiegen,
Götterbotin! weiltest du
Nun in gütigem Genügen
Bei dem Sänger immerzu.

Sommerglut und Frühlingsmilde,
Streit und Frieden wechselt hier
Vor dem stillen Götterbilde
Wunderbar im Busen mir;
Zürnend unter Huldigungen
Hab ich oft, beschämt, besiegt,
Sie zu fassen, schon gerungen,
Die mein Kühnstes überfliegt;
Unzufrieden im Gewinne,
Hab ich stolz darob geweint,
Daß zu herrlich meinem Sinne
Und zu mächtig sie erscheint.

Ach! an deine stille Schöne,
Selig holdes Angesicht!
Herz! an deine Himmelstöne
Ist gewohnt das meine nicht;
Aber deine Melodien
Heitern mählig mir den Sinn,
Daß die trüben Träume fliehen,
Und ich selbst ein andrer bin;
Bin ich dazu denn erkoren?
Ich zu deiner hohen Ruh,
So zu Licht und Lust geboren,
Göttlichglückliche! wie du? –

Wie dein Vater und der meine,
Der in heitrer Majestät
Über seinem Eichenhaine
Dort in lichter Höhe geht,
Wie er in die Meereswogen,
Wo die kühle Tiefe blaut,
Steigend von des Himmels Bogen,
Klar und still herunterschaut:
So will ich aus Götterhöhen,
Neu geweiht in schönrem Glück,
Froh zu singen und zu sehen,
Nun zu Sterblichen zurück.

(entstanden 1796/7, Erstdruck 1799)

Susette Gontard, Marmorbüste von Landolin Ohmacht 1796

Götter wandelten einst bei Menschen, die herrlichen Musen
   Und der Jüngling, Apoll, heilend, begeisternd wie du.
Und du bist mir, wie sie, als hätte der Seligen Einer
   Mich ins Leben gesandt, geh ich, es wandelt das Bild
Meiner Heldin mit mir, wo ich duld und bilde, mit Liebe
   Bis in den Tod, denn dies lernt ich und hab ich von ihr.

Laß uns leben, o du, mit der ich leide, mit der ich
   Innig und glaubig und treu ringe nach schönerer Zeit.
Sind doch wirs! und wüßten sie noch in kommenden Jahren
   Von uns beiden, wenn einst wieder der Genius gilt,
Sprachen sie: es schufen sich einst die Einsamen liebend
   Nur von Göttern gekannt ihre geheimere Welt.
Denn die Sterbliches nur besorgt, es empfangt sie die Erde,
   Aber näher zum Licht wandern, zum Aether hinauf
Sie, die inniger Liebe treu, und göttlichem Geiste
   Hoffend und duldend und still über das Schicksal gesiegt.

(Fragment, entstanden 1799, Erstdruck 1909)

Abbitte

Heilig Wesen! gestört hab ich die goldene
   Götterruhe dir oft, und der geheimeren,
      Tiefern Schmerzen des Lebens
         Hast du manche gelernt von mir.

O vergiß es, vergib! gleich dem Gewölke dort
   Vor dem friedlichen Mond, geh ich dahin, und du
      Ruhst und glänzest in deiner
         Schöne wieder, du süßes Licht!

(entstanden und gedruckt 1798)

Neben der Lyrik ist Diotima vor allem mit "Hyperion oder Der Eremit in Griechenland" verbunden, einem Briefroman und Hölderlins einzigem vollendeten epischen Werk (neben Gedichten hat er ansonsten lediglich ein Tragödienfragment über den Philosophen Empedokles, philosophische und poetologische Aufsätze sowie Übersetzungen hinterlassen). Das bereits 1794 in Schillers Zeitschrift Thalia publizierte "Fragment von Hyperion" war Susette durch die Abschrift einer Freundin zugänglich gemacht worden. Nach der persönlichen Bekanntschaft mit ihr verlieh Hölderlin der weiblichen Hauptfigur ihre Züge und benannte sie in Diotima um. Der erste Band des abgeschlossenen Werkes erschien 1797, der zweite, an dem Susette mitwirkte und der die Trennung und ihren frühen Tod antizipiert, 1799, mit der an sie gerichteten Widmung "wem sonst als dir".
Nicht nur in diesem Zusammenhang hat es den Anschein, als sei Hölderlin in den Gang seines Schicksals auf seltsame Art eingeweiht gewesen. Mit der Publikation des Hyperion und dem Ende des direkten Kontaktes zu seiner Diotima erreichte seine Poesie ihren Gipfel, nach deren Tod verfiel er binnen vier Jahren dem Wahnsinn. Schon in Jünglingsjahren für überspannt und verrückt erklärt, verrückt gemacht, sich selbst verrückt machend, gelangte er nach einem Jahr in der Irrenanstalt ab 1807 in das - für damalige Verrückte luxuriöse - Refugium des Tübinger Turms. Der gebildete Schreiner Zimmer nahm ihn dort in Pflege, weil er den Hyperion bewunderte, und hier dämmerte er bis zu seinem Tod am 7.6.1843 hin.
Seine lyrische Produktivität erlosch nicht, gelegentlich auf Wunsch von Besuchern, mit Phantasienamen und -daten signiert, schrieb er überwiegend Kurzgedichte. Themen sind vielfach Jahreszeiten, so Der Frühling (FrühlingsgedichteFrühlingsgedichte) und Der Winter (WintergedichteWintergedichte), fast nie wirr oder unsinnig, aber gegenüber den Hauptwerken innerlich gebrochen und zerklungen. Ergreifend sind seine Vierzeiler zum Lebensüberdruss Das Angenehme dieser Welt... (hier in EpigrammeEpigramme) und

An Zimmern

Die Linien des Lebens sind verschieden,
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.

 

Hölderlin mit 70; Wachsrelief von W. Neubert

Vielleicht muss mann sich Bettina von Armin anschließen, aus deren Worten wie sonst kaum bei Zeitgenossen Anerkenung und Verständnis spricht:

Mir sind seine Sprüche wie Orakelsprüche, die er als der Priester des Gottes im Wahnsinn ausruft, und gewiss ist alles Weltleben ihm gegenüber wahnsinnig; denn es begreift ihn nicht.

 

Um die Ignoranten, ein "finster Geschlecht", handelt es sich auch im Anfangsvers des abschließend zitierten Fragments aus dem hymnischen Entwurf "An die Madonna", das eine Art Quintessenz aus Hölderlins Denken, Dichten und Dasein bildet:

Was kümmern sie dich,
O Gesang, den Reinen; ich zwar,
Ich sterbe, doch du
Gehest andere Bahn, umsonst
Mag dich ein Neidisches hindern.
Wenn dann in kommender Zeit
Du einem Guten begegnest,
So grüß ihn, und er denkt,
Wie unsere Tage wohl
Voll Glücks, voll Leidens gewesen.

 

Webtipps Hölderlin Hölderlin im Internet

Eine umfassende Seite zu diesem Dichter ist im Web noch nicht gediehen, doch die Hölderlin-Gesellschaft offeriert kompakte Daten, Zeittafeln und verspricht, ihre Palette zu erweitern. Bei der Württembergischen Landesbibliothek kann man eine Internationale Hölderlin-Bibliographie einsehen. In Klaus Dautels Unterrichtsmateralien lässt sich einiges Interessantes zu Werken und Biographie entdecken. Einen recht unverstellten Einstieg findet man mit Xlibris. Die Gedichte, Hyperion, Empedokles, Aufsätze und Briefe kann man beim Projekt Gutenberg nachlesen.

 

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